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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Fremden, und sieht dann durch das Fenster. Durch diese Mimik will der wackere
Mann sagen: "ich sehe nicht, daß sich Deine Hand der Tasche zu bewegt, das
muß ich erwarten." Die Intelligenz des Andern ist leider nicht groß genug, dies
zu begreifen. Er schweigt, endlich erlaubt er sich zum zweiten Mal zu bitten.
. "Mein Herr, wollten Sie nicht so gütig sein, diesen Schein zu stempeln?"
Blitzschnell wendet der Russe das Gesicht gegen ihn, sagt kurz und barsch:
"ich habe noch nicht zu Mittag gegessen, mein Herr!" und sieht wieder durch das
Fenster.

Jetzt wird der Deutsche selbst verlegen und begreift den Mann gar nicht.
Er macht die gutmüthige Folgerung, der Hungrige solle zunächst zu Tisch gehen,
und 'ihm baun seinen Schein stempeln, allein der Russe'zeigt durch Nichts an,
daß er sich vom Bureau zu entfernen gedenkt. Zu dem ist es Nachmittag vier
Uhr. Nach langer Weile saßt der Fremde Muth, ihn zum driten Mal zu ersuchen:
"Aber, Herr Adjunct, Sie würden mich sehr zu Danke verpflichten, wenn Sie mir
den Schein stempeln wollten."

"Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen," schleudert dieser mit demselben Tone
wie früher hin und läßt den Erstaunten verachtend hinter seinem Rücken stehen.
Jede Aussicht auf den Stempel schwindet. Plötzlich erhält der Deutsche von
hinten einen ziemlich unsanften Rippenstoß. Es ist jener Schreiber, der ihm den
Schein geschrieben hat. Der junge gutmüthige Mensch ist in des Reisenden
eigenem Interesse wüthend über seine Einfalt. "Zum Donnerwetter, wenn Sie
Reisen machen, so werden Sie doch wol einige Gulden herzugeben haben," flü¬
stert er. Jetzt erst versteht der Herr, welcher den Schein sucht, deu Herrn, welcher
den Stempel dazu hat, und erkennt, daß beim Nehmen die höheren Beamten
durchaus nicht anders behandelt sein wollen, als die niedrigsten; nur natürlich
mit dem Unterschied, daß sie mehr nehmen. --Der Reisende verläßt am andern
Tage Warschau, er muß am jcrusalemer Thor seinen Paß vorzeigen. Ein Thor-
anfseher trägt diesen in das Bureau des ThoriuspectorS. Nach einer Weile kehrt
der Aufseher ohne deu Paß mit der Meldung zurück: "l'im Insxxzetor proste
na 8lueÄg.me." Diese Nedeformel ist sehr zweideutig. Ohne die geringste
Lantändernng bedeutet sie zugleich: "Der Herr Inspector erbittet etwas zum
Hrühstück" und "Der Herr Inspector ladet Sie ein zum Frühstück." Dem höfli¬
chen Reisenden klingt die zweite Bedeutuug in das Ohr, er befreit sich aus der
seltsamen Verlegenheit, indem er den Aufseher in das Bureau zurückschickt und
dem Inspector sagen läßt: Man sei ihm für die Einladung zum Frühstück außer¬
ordentlich verpflichtet, allein es sei keine Zeit, die Pferde halten zu lassen und die
eilige Reise zu verzögern. Plötzlich erscheint der Inspector in der Thür mit
flammendem Gesicht, höchlich empört, und donnert in ziemlich gutem Deutsch:
"Was, was, ich lade Niemanden zum Frühstück ein; und verlange nur einen
Beitrag zu meinem Frühstück!" Nach dieser Erklärung verschwindet der erboste


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Fremden, und sieht dann durch das Fenster. Durch diese Mimik will der wackere
Mann sagen: „ich sehe nicht, daß sich Deine Hand der Tasche zu bewegt, das
muß ich erwarten." Die Intelligenz des Andern ist leider nicht groß genug, dies
zu begreifen. Er schweigt, endlich erlaubt er sich zum zweiten Mal zu bitten.
. „Mein Herr, wollten Sie nicht so gütig sein, diesen Schein zu stempeln?"
Blitzschnell wendet der Russe das Gesicht gegen ihn, sagt kurz und barsch:
„ich habe noch nicht zu Mittag gegessen, mein Herr!" und sieht wieder durch das
Fenster.

Jetzt wird der Deutsche selbst verlegen und begreift den Mann gar nicht.
Er macht die gutmüthige Folgerung, der Hungrige solle zunächst zu Tisch gehen,
und 'ihm baun seinen Schein stempeln, allein der Russe'zeigt durch Nichts an,
daß er sich vom Bureau zu entfernen gedenkt. Zu dem ist es Nachmittag vier
Uhr. Nach langer Weile saßt der Fremde Muth, ihn zum driten Mal zu ersuchen:
„Aber, Herr Adjunct, Sie würden mich sehr zu Danke verpflichten, wenn Sie mir
den Schein stempeln wollten."

„Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen," schleudert dieser mit demselben Tone
wie früher hin und läßt den Erstaunten verachtend hinter seinem Rücken stehen.
Jede Aussicht auf den Stempel schwindet. Plötzlich erhält der Deutsche von
hinten einen ziemlich unsanften Rippenstoß. Es ist jener Schreiber, der ihm den
Schein geschrieben hat. Der junge gutmüthige Mensch ist in des Reisenden
eigenem Interesse wüthend über seine Einfalt. „Zum Donnerwetter, wenn Sie
Reisen machen, so werden Sie doch wol einige Gulden herzugeben haben," flü¬
stert er. Jetzt erst versteht der Herr, welcher den Schein sucht, deu Herrn, welcher
den Stempel dazu hat, und erkennt, daß beim Nehmen die höheren Beamten
durchaus nicht anders behandelt sein wollen, als die niedrigsten; nur natürlich
mit dem Unterschied, daß sie mehr nehmen. —Der Reisende verläßt am andern
Tage Warschau, er muß am jcrusalemer Thor seinen Paß vorzeigen. Ein Thor-
anfseher trägt diesen in das Bureau des ThoriuspectorS. Nach einer Weile kehrt
der Aufseher ohne deu Paß mit der Meldung zurück: „l'im Insxxzetor proste
na 8lueÄg.me." Diese Nedeformel ist sehr zweideutig. Ohne die geringste
Lantändernng bedeutet sie zugleich: „Der Herr Inspector erbittet etwas zum
Hrühstück" und „Der Herr Inspector ladet Sie ein zum Frühstück." Dem höfli¬
chen Reisenden klingt die zweite Bedeutuug in das Ohr, er befreit sich aus der
seltsamen Verlegenheit, indem er den Aufseher in das Bureau zurückschickt und
dem Inspector sagen läßt: Man sei ihm für die Einladung zum Frühstück außer¬
ordentlich verpflichtet, allein es sei keine Zeit, die Pferde halten zu lassen und die
eilige Reise zu verzögern. Plötzlich erscheint der Inspector in der Thür mit
flammendem Gesicht, höchlich empört, und donnert in ziemlich gutem Deutsch:
„Was, was, ich lade Niemanden zum Frühstück ein; und verlange nur einen
Beitrag zu meinem Frühstück!" Nach dieser Erklärung verschwindet der erboste


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/261>, abgerufen am 19.10.2024.