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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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viel größere Aufgabe; nur ist es eine große Thorheit, diese Aufgabe fixiren
zu wollen. Die Philosophie hat drei große Perioden gehabt. Die erste, wo
die Disciplinen des Wissens sich noch nicht von einander gesondert und wo auf
der andern Seite die idealen Vorstellungen (Mythen, Götterbilder?c.) sich noch
nicht zu allgemeinen Glaubenssätzen fixirt hatten. Man vergesse nicht, daß
Aristoteles lauge vor Euklid lebte, und daß dieser umgekehrte Weg der wissen¬
schaftlichen Entwickelung heut zu Tage nicht mehr möglich ist. -- Die zweite
Periode war der Schluß des Mittelalters, wo sich über die ganze Welt ein Netz
von Abstractionen gebreitet hatte, die einerseits ans dem kirchlichen System,
andrerseits ans den aristotelischen Ueberlieferungen entsprungen waren. Von
diesem Alp haben große Denker, Bacon und seine Schule auf der einen, Car-
tesius, Spinoza u. s. w. auf der andern Seite, die Welt befreit; sie haben
dadurch die Wiederaufnahme der wirklichen Wissenschaft möglich gemacht, und
der Philologie, die nach einer andern Richtung hin dasselbe Bestreben verfolgte,
in die Hände gearbeitet. Die dritte große Periode der Philosophie war die
Zeit von Kant bis Hegel. Damals galt der Kampf der sogenannten Aufklärung,
die eine Art Nivellirsystem des Denkens aufgestellt hatte, wonach sich jeder Gebildete
Mühe geben mußte, so zu denken, wie der gemeine Mann, das heißt, so ein¬
fältig als möglich. Von dieser Trivialität haben uns unsere Philosophen im
Bunde mit unseren Dichtern befreit.

Wenn man auf diese Weise die Philosophie historisch betrachtet, so scheint
uns das keine unwürdige Vorstellung zu sein. Jene Heroen des Geistes erlangen
dadurch eine Stelle redenden großen Künstlern, neben den großen Völkcrführern,
neben den Propheten. Freilich, die Aristoteliker und die Cartestaner, Spinozisten,
Kantianer, Hegelianer :c. verlieren viel von ihrem Glanz, denn sie haben immer
nnr Duplicate gegeben, und die sind vom Uebel. Wenn Hegel in seiner Logik
den sogenannten gesunden Menschenverstand, der immer am klügsten zu sein glaubte,
wenn er vollständig gedankenlos war, durch die kühnste Sophistik, welche die
Welt gesehen hat, in Verwirrung setzte, so war das damals ein sehr nützlicher
Schreck; aber jetzt, nachdem der Schreck seine Wirkung gethan hat, sich noch mit
der Frage herumzutragen, ob das Nichtsein mehr oder weniger ist, als das Sein,
das Dasein mehr oder weniger, als die Existenz, und ob das Eins das
Erste ist, oder die Zwei, das scheint uns Kors Ze Saison; wenn jene Begriffs¬
spaltungen überhaupt einen Sinn haben sollen, so kann es doch nur der sein,
in der Anwendung dieser Begriffe auf Correctheit des Sprachgebrauchs zu bringen,
und dazu giebt es einfachere Mittel, als die absolute Wissenschaft.




viel größere Aufgabe; nur ist es eine große Thorheit, diese Aufgabe fixiren
zu wollen. Die Philosophie hat drei große Perioden gehabt. Die erste, wo
die Disciplinen des Wissens sich noch nicht von einander gesondert und wo auf
der andern Seite die idealen Vorstellungen (Mythen, Götterbilder?c.) sich noch
nicht zu allgemeinen Glaubenssätzen fixirt hatten. Man vergesse nicht, daß
Aristoteles lauge vor Euklid lebte, und daß dieser umgekehrte Weg der wissen¬
schaftlichen Entwickelung heut zu Tage nicht mehr möglich ist. — Die zweite
Periode war der Schluß des Mittelalters, wo sich über die ganze Welt ein Netz
von Abstractionen gebreitet hatte, die einerseits ans dem kirchlichen System,
andrerseits ans den aristotelischen Ueberlieferungen entsprungen waren. Von
diesem Alp haben große Denker, Bacon und seine Schule auf der einen, Car-
tesius, Spinoza u. s. w. auf der andern Seite, die Welt befreit; sie haben
dadurch die Wiederaufnahme der wirklichen Wissenschaft möglich gemacht, und
der Philologie, die nach einer andern Richtung hin dasselbe Bestreben verfolgte,
in die Hände gearbeitet. Die dritte große Periode der Philosophie war die
Zeit von Kant bis Hegel. Damals galt der Kampf der sogenannten Aufklärung,
die eine Art Nivellirsystem des Denkens aufgestellt hatte, wonach sich jeder Gebildete
Mühe geben mußte, so zu denken, wie der gemeine Mann, das heißt, so ein¬
fältig als möglich. Von dieser Trivialität haben uns unsere Philosophen im
Bunde mit unseren Dichtern befreit.

Wenn man auf diese Weise die Philosophie historisch betrachtet, so scheint
uns das keine unwürdige Vorstellung zu sein. Jene Heroen des Geistes erlangen
dadurch eine Stelle redenden großen Künstlern, neben den großen Völkcrführern,
neben den Propheten. Freilich, die Aristoteliker und die Cartestaner, Spinozisten,
Kantianer, Hegelianer :c. verlieren viel von ihrem Glanz, denn sie haben immer
nnr Duplicate gegeben, und die sind vom Uebel. Wenn Hegel in seiner Logik
den sogenannten gesunden Menschenverstand, der immer am klügsten zu sein glaubte,
wenn er vollständig gedankenlos war, durch die kühnste Sophistik, welche die
Welt gesehen hat, in Verwirrung setzte, so war das damals ein sehr nützlicher
Schreck; aber jetzt, nachdem der Schreck seine Wirkung gethan hat, sich noch mit
der Frage herumzutragen, ob das Nichtsein mehr oder weniger ist, als das Sein,
das Dasein mehr oder weniger, als die Existenz, und ob das Eins das
Erste ist, oder die Zwei, das scheint uns Kors Ze Saison; wenn jene Begriffs¬
spaltungen überhaupt einen Sinn haben sollen, so kann es doch nur der sein,
in der Anwendung dieser Begriffe auf Correctheit des Sprachgebrauchs zu bringen,
und dazu giebt es einfachere Mittel, als die absolute Wissenschaft.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/161>, abgerufen am 21.06.2024.