Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

bestehen? Will Herr Gottschall vielleicht die Monogamie aufheben? Damit wird
er aber nicht eine dem Menschen angeborene Eigenschaft aufheben, die man
Eifersucht nennt und die es als ein Recht in Anspruch nimmt, den höchsten Ge¬
nuß des Lebens mit Niemandem zu theilen. Er wird ferner nicht die Noth¬
wendigkeit der mütterlichen Erziehung aufheben, die nur unter geordneten Ver¬
hältnissen möglich ist. Also wird es die menschliche Gesellschaft immer in ihrem
Interesse finden, ein Institut, welches unsrer protestantischen Ehe ungefähr ent¬
spricht, wieder einzuführen, und wenn sie Ausnahmen gelten läßt, die wir allerdings
auch statuiren, so läßt sie sie eben nur als Ausnahmen gelten. Wir sind also
keineswegs der Meinung, Herr Gottschall habe mit jenen Ideen etwas Entsetz¬
liches, Fürchterliches, sagen wollen und sich nur gescheut es auszusprechen,
sondern wir glauben nnr, daß er hergebrachte jungdeutsche Phrasen, bei
denen man absolut gar nichts denken kann, in wohllautende Verse und Reime
gebracht. Das ist aber für den Kritiker bei einem Dichter, dessen Begabung er
achtet, eine höchst betrübende Erfahrung.

Allein bei diesem einzelnen Punkt bleibt die Unsicherheit des Urtheils gar
nicht stehen. Es sind eine ziemliche Zahl von Episoden aus der Revolutions-
geschichte eingeführt: Danton, Marat, Robespierre, Charlotte Corday u. s. w.,
von denen Jeder in einer Art von Romanze seine Weltanschauung ausspricht.
Das ist eine Manier, die namentlich seit Lenau in unsren episch-lyrischen Gedichten
hergebracht ist. Sie beruht aber ans einem Verkennen des Wesens der Lyrik.
Im Drama dulden wir es, wenn die einzelnen Personen im Monolog die ab¬
scheulichsten und absurdesten Grundsätze aussprechen, weil die didaktische Bewegung
des Drama's diese Irrthümer des Verstandes und Herzens corrigirt oder un¬
schädlich macht; im lyrischen Gedicht dagegen wollen wir den Dichter, die Natur,
die Poesie selbst hören. Die Situationen des lyrischen Gedichts mögen so ver¬
worren sein wie sie wollen, die ideale Stimmung muß von allgemein menschlicher
Wahrheit sein.. Darum sind jene melodramatischen Ergüsse des Wahnsinns am
Schlüsse des Gedichts auch unstatthaft. Wir haben über Robespierre, Marat ze.
in neuester Zeit überflüssig viel psychologische Studien erhalten; wir wissen ganz
genan, daß sie alle Halunken waren und eigentlich sehr uninteressante Persönlich¬
keiten, wenn sie nicht die Ironie der Weltgeschichte in eine unnatürliche Stellung
versetzt hätte. Einzelne lyrische Betrachtungen über diese Persönlichkeiten können
unsre Erkenntniß und unser Interesse nicht fördern. Außerdem gehören sie hier
nicht im Geringsten in den Zusammenhang. Was wir aber dabei bemerken wollten,
ist das Schwanken des Urtheils im Dichter. Ihm imponiren diese Personen, ihm
imponirt auch die Idee der Revolution; andrerseits hat er aber wieder zu viel
gesunden Menschenverstand und zu viel Erfahrung, um sie unbedingt gelten zu
lassen. Statt nun das Eine an dem Andern zu corrigiren, läßt er die eine Em¬
pfindung in die andere spielen, und dadurch kommt nicht blos in sein Urtheil,


bestehen? Will Herr Gottschall vielleicht die Monogamie aufheben? Damit wird
er aber nicht eine dem Menschen angeborene Eigenschaft aufheben, die man
Eifersucht nennt und die es als ein Recht in Anspruch nimmt, den höchsten Ge¬
nuß des Lebens mit Niemandem zu theilen. Er wird ferner nicht die Noth¬
wendigkeit der mütterlichen Erziehung aufheben, die nur unter geordneten Ver¬
hältnissen möglich ist. Also wird es die menschliche Gesellschaft immer in ihrem
Interesse finden, ein Institut, welches unsrer protestantischen Ehe ungefähr ent¬
spricht, wieder einzuführen, und wenn sie Ausnahmen gelten läßt, die wir allerdings
auch statuiren, so läßt sie sie eben nur als Ausnahmen gelten. Wir sind also
keineswegs der Meinung, Herr Gottschall habe mit jenen Ideen etwas Entsetz¬
liches, Fürchterliches, sagen wollen und sich nur gescheut es auszusprechen,
sondern wir glauben nnr, daß er hergebrachte jungdeutsche Phrasen, bei
denen man absolut gar nichts denken kann, in wohllautende Verse und Reime
gebracht. Das ist aber für den Kritiker bei einem Dichter, dessen Begabung er
achtet, eine höchst betrübende Erfahrung.

Allein bei diesem einzelnen Punkt bleibt die Unsicherheit des Urtheils gar
nicht stehen. Es sind eine ziemliche Zahl von Episoden aus der Revolutions-
geschichte eingeführt: Danton, Marat, Robespierre, Charlotte Corday u. s. w.,
von denen Jeder in einer Art von Romanze seine Weltanschauung ausspricht.
Das ist eine Manier, die namentlich seit Lenau in unsren episch-lyrischen Gedichten
hergebracht ist. Sie beruht aber ans einem Verkennen des Wesens der Lyrik.
Im Drama dulden wir es, wenn die einzelnen Personen im Monolog die ab¬
scheulichsten und absurdesten Grundsätze aussprechen, weil die didaktische Bewegung
des Drama's diese Irrthümer des Verstandes und Herzens corrigirt oder un¬
schädlich macht; im lyrischen Gedicht dagegen wollen wir den Dichter, die Natur,
die Poesie selbst hören. Die Situationen des lyrischen Gedichts mögen so ver¬
worren sein wie sie wollen, die ideale Stimmung muß von allgemein menschlicher
Wahrheit sein.. Darum sind jene melodramatischen Ergüsse des Wahnsinns am
Schlüsse des Gedichts auch unstatthaft. Wir haben über Robespierre, Marat ze.
in neuester Zeit überflüssig viel psychologische Studien erhalten; wir wissen ganz
genan, daß sie alle Halunken waren und eigentlich sehr uninteressante Persönlich¬
keiten, wenn sie nicht die Ironie der Weltgeschichte in eine unnatürliche Stellung
versetzt hätte. Einzelne lyrische Betrachtungen über diese Persönlichkeiten können
unsre Erkenntniß und unser Interesse nicht fördern. Außerdem gehören sie hier
nicht im Geringsten in den Zusammenhang. Was wir aber dabei bemerken wollten,
ist das Schwanken des Urtheils im Dichter. Ihm imponiren diese Personen, ihm
imponirt auch die Idee der Revolution; andrerseits hat er aber wieder zu viel
gesunden Menschenverstand und zu viel Erfahrung, um sie unbedingt gelten zu
lassen. Statt nun das Eine an dem Andern zu corrigiren, läßt er die eine Em¬
pfindung in die andere spielen, und dadurch kommt nicht blos in sein Urtheil,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0137" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/95118"/>
          <p xml:id="ID_352" prev="#ID_351"> bestehen? Will Herr Gottschall vielleicht die Monogamie aufheben? Damit wird<lb/>
er aber nicht eine dem Menschen angeborene Eigenschaft aufheben, die man<lb/>
Eifersucht nennt und die es als ein Recht in Anspruch nimmt, den höchsten Ge¬<lb/>
nuß des Lebens mit Niemandem zu theilen. Er wird ferner nicht die Noth¬<lb/>
wendigkeit der mütterlichen Erziehung aufheben, die nur unter geordneten Ver¬<lb/>
hältnissen möglich ist. Also wird es die menschliche Gesellschaft immer in ihrem<lb/>
Interesse finden, ein Institut, welches unsrer protestantischen Ehe ungefähr ent¬<lb/>
spricht, wieder einzuführen, und wenn sie Ausnahmen gelten läßt, die wir allerdings<lb/>
auch statuiren, so läßt sie sie eben nur als Ausnahmen gelten. Wir sind also<lb/>
keineswegs der Meinung, Herr Gottschall habe mit jenen Ideen etwas Entsetz¬<lb/>
liches, Fürchterliches, sagen wollen und sich nur gescheut es auszusprechen,<lb/>
sondern wir glauben nnr, daß er hergebrachte jungdeutsche Phrasen, bei<lb/>
denen man absolut gar nichts denken kann, in wohllautende Verse und Reime<lb/>
gebracht. Das ist aber für den Kritiker bei einem Dichter, dessen Begabung er<lb/>
achtet, eine höchst betrübende Erfahrung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_353" next="#ID_354"> Allein bei diesem einzelnen Punkt bleibt die Unsicherheit des Urtheils gar<lb/>
nicht stehen. Es sind eine ziemliche Zahl von Episoden aus der Revolutions-<lb/>
geschichte eingeführt: Danton, Marat, Robespierre, Charlotte Corday u. s. w.,<lb/>
von denen Jeder in einer Art von Romanze seine Weltanschauung ausspricht.<lb/>
Das ist eine Manier, die namentlich seit Lenau in unsren episch-lyrischen Gedichten<lb/>
hergebracht ist. Sie beruht aber ans einem Verkennen des Wesens der Lyrik.<lb/>
Im Drama dulden wir es, wenn die einzelnen Personen im Monolog die ab¬<lb/>
scheulichsten und absurdesten Grundsätze aussprechen, weil die didaktische Bewegung<lb/>
des Drama's diese Irrthümer des Verstandes und Herzens corrigirt oder un¬<lb/>
schädlich macht; im lyrischen Gedicht dagegen wollen wir den Dichter, die Natur,<lb/>
die Poesie selbst hören. Die Situationen des lyrischen Gedichts mögen so ver¬<lb/>
worren sein wie sie wollen, die ideale Stimmung muß von allgemein menschlicher<lb/>
Wahrheit sein.. Darum sind jene melodramatischen Ergüsse des Wahnsinns am<lb/>
Schlüsse des Gedichts auch unstatthaft. Wir haben über Robespierre, Marat ze.<lb/>
in neuester Zeit überflüssig viel psychologische Studien erhalten; wir wissen ganz<lb/>
genan, daß sie alle Halunken waren und eigentlich sehr uninteressante Persönlich¬<lb/>
keiten, wenn sie nicht die Ironie der Weltgeschichte in eine unnatürliche Stellung<lb/>
versetzt hätte. Einzelne lyrische Betrachtungen über diese Persönlichkeiten können<lb/>
unsre Erkenntniß und unser Interesse nicht fördern. Außerdem gehören sie hier<lb/>
nicht im Geringsten in den Zusammenhang. Was wir aber dabei bemerken wollten,<lb/>
ist das Schwanken des Urtheils im Dichter. Ihm imponiren diese Personen, ihm<lb/>
imponirt auch die Idee der Revolution; andrerseits hat er aber wieder zu viel<lb/>
gesunden Menschenverstand und zu viel Erfahrung, um sie unbedingt gelten zu<lb/>
lassen. Statt nun das Eine an dem Andern zu corrigiren, läßt er die eine Em¬<lb/>
pfindung in die andere spielen, und dadurch kommt nicht blos in sein Urtheil,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0137] bestehen? Will Herr Gottschall vielleicht die Monogamie aufheben? Damit wird er aber nicht eine dem Menschen angeborene Eigenschaft aufheben, die man Eifersucht nennt und die es als ein Recht in Anspruch nimmt, den höchsten Ge¬ nuß des Lebens mit Niemandem zu theilen. Er wird ferner nicht die Noth¬ wendigkeit der mütterlichen Erziehung aufheben, die nur unter geordneten Ver¬ hältnissen möglich ist. Also wird es die menschliche Gesellschaft immer in ihrem Interesse finden, ein Institut, welches unsrer protestantischen Ehe ungefähr ent¬ spricht, wieder einzuführen, und wenn sie Ausnahmen gelten läßt, die wir allerdings auch statuiren, so läßt sie sie eben nur als Ausnahmen gelten. Wir sind also keineswegs der Meinung, Herr Gottschall habe mit jenen Ideen etwas Entsetz¬ liches, Fürchterliches, sagen wollen und sich nur gescheut es auszusprechen, sondern wir glauben nnr, daß er hergebrachte jungdeutsche Phrasen, bei denen man absolut gar nichts denken kann, in wohllautende Verse und Reime gebracht. Das ist aber für den Kritiker bei einem Dichter, dessen Begabung er achtet, eine höchst betrübende Erfahrung. Allein bei diesem einzelnen Punkt bleibt die Unsicherheit des Urtheils gar nicht stehen. Es sind eine ziemliche Zahl von Episoden aus der Revolutions- geschichte eingeführt: Danton, Marat, Robespierre, Charlotte Corday u. s. w., von denen Jeder in einer Art von Romanze seine Weltanschauung ausspricht. Das ist eine Manier, die namentlich seit Lenau in unsren episch-lyrischen Gedichten hergebracht ist. Sie beruht aber ans einem Verkennen des Wesens der Lyrik. Im Drama dulden wir es, wenn die einzelnen Personen im Monolog die ab¬ scheulichsten und absurdesten Grundsätze aussprechen, weil die didaktische Bewegung des Drama's diese Irrthümer des Verstandes und Herzens corrigirt oder un¬ schädlich macht; im lyrischen Gedicht dagegen wollen wir den Dichter, die Natur, die Poesie selbst hören. Die Situationen des lyrischen Gedichts mögen so ver¬ worren sein wie sie wollen, die ideale Stimmung muß von allgemein menschlicher Wahrheit sein.. Darum sind jene melodramatischen Ergüsse des Wahnsinns am Schlüsse des Gedichts auch unstatthaft. Wir haben über Robespierre, Marat ze. in neuester Zeit überflüssig viel psychologische Studien erhalten; wir wissen ganz genan, daß sie alle Halunken waren und eigentlich sehr uninteressante Persönlich¬ keiten, wenn sie nicht die Ironie der Weltgeschichte in eine unnatürliche Stellung versetzt hätte. Einzelne lyrische Betrachtungen über diese Persönlichkeiten können unsre Erkenntniß und unser Interesse nicht fördern. Außerdem gehören sie hier nicht im Geringsten in den Zusammenhang. Was wir aber dabei bemerken wollten, ist das Schwanken des Urtheils im Dichter. Ihm imponiren diese Personen, ihm imponirt auch die Idee der Revolution; andrerseits hat er aber wieder zu viel gesunden Menschenverstand und zu viel Erfahrung, um sie unbedingt gelten zu lassen. Statt nun das Eine an dem Andern zu corrigiren, läßt er die eine Em¬ pfindung in die andere spielen, und dadurch kommt nicht blos in sein Urtheil,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/137
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/137>, abgerufen am 21.06.2024.