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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Stimmung und dem Charakter des Stücks entspricht. Das ist schon ganz der
"höhere Standpunkt", die Vogelperspective, von der aus unsre jetzigen Lyriker ihre
Gegenstände auffassen. Goethe hat z. B. in seinem Faust der Nation ein Beispiel
gegeben, wie man durch ein Gedicht, welches eigentlich mir aus einer Reihe von
Fragmenten besteht, in dem der innere psychologische und ethische Zusammen¬
hang ein vollständiges Räthsel bleibt, und in dem eine Stimmung der andern
widerspricht, dennoch das Publicum elektrisiren könne. Der Unterschied gegen
die spätere Lyrik lag nur darin, daß alles Einzelne auf's Correcteste und Muster¬
hafteste ausgearbeitet war. Später wollte mau wo möglich in jedem einzelnen
Sonnett eine totale Weltanschauung geben. -- Durch Byron ist dieses rhapsodische
Wesen der Poesie noch populaircr geworden, und Heine hat es durch seine
wunderbare Virtuosität auf die Spitze getrieben. Heine's Kunst besteht darin, daß
er im Wesentlichen frei von seinen Gegenständen ist, andererseits aber doch, wenn
er es will, sich mit großer Kraft und Jntensivität in sie vertieft. Jeder Gegen¬
stand hat seine verschiedenen Seiten, die ihn den verschiedenen Gattungen der
Poesie zugänglich machen. Wir wollen z. B. die Madonna nehmen, die uns
wegen des Werks, welches wir hier besprechen wollen, am nächsten liegt. In der
Madonna liegt einerseits etwas Göttliches, Erhebendes, wir dürfen nnr die
Sixtinische ansehen; andererseits etwas menschlich Rührendes, Gemüthliches,
wenn wir von ihrer Geschichte nur die ideale Seite auffassen; dann auch etwas
Entsetzliches und Schreckliches, wenn wir sie als Symbol einer fanatischen Glau-
benörichtnng, als Schreckbild für alle natürlichen Freuden des Lebens betrachten;
endlich auch etwas Komisches, wenn wir die Begebenheiten, die wir von ihr
wissen, in'ö Volkstümliche übersetzen. Alle diese Seiten können künstlerisch dar¬
gestellt werden. Heine aber versteht eS, alle diese Stimmungen unmittelbar ueben
einander anzuschlagen, und da er mit eben so großer Virtuosität sich der Rührung
wie des komischen Effects zu bemeistern weiß, so werden.wir im ersten Augenblick
geradezu verwirrt und betäubt, bis wir seine Handgriffe genauer in's Ange
gefaßt haben. Allem auch Heine läßt seinen Empfindungen wenigstens immer
einen gewissen Raum. Wir haben Zeit, uns zuerst in Andacht und Rührung
zu versetzen, und darum wirkt die plötzlich über nus stürzende Douche seiner
Ironie um so kräftiger. Bei den neueren Lyrikern ist es anders. Auch wenn
sie rühren wollen, sind sie nicht im Stande, ihre ironischen Einfälle zurück¬
zuhalten, und wenn sie spotten wollen, so quillt ihnen unversehens eine heilige
Thräne ans den Augen. Darin suchen zwar einige neue Kunstrichter das
Höchste, der Poesie, wir aber halten es sür die Spitze der Geschmacklosigkeit,
und jedes natürliche Gefühl wird uns darin beistimmen, denn bei solchem Ver¬
fahren hebt die eine Wirkung die andere aus, und es bleibt nichts zurück als
Verstimmung.

Wenn wir als ein Beispiel dieser neuen lyrischen Richtung hier ein Werk


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Stimmung und dem Charakter des Stücks entspricht. Das ist schon ganz der
„höhere Standpunkt", die Vogelperspective, von der aus unsre jetzigen Lyriker ihre
Gegenstände auffassen. Goethe hat z. B. in seinem Faust der Nation ein Beispiel
gegeben, wie man durch ein Gedicht, welches eigentlich mir aus einer Reihe von
Fragmenten besteht, in dem der innere psychologische und ethische Zusammen¬
hang ein vollständiges Räthsel bleibt, und in dem eine Stimmung der andern
widerspricht, dennoch das Publicum elektrisiren könne. Der Unterschied gegen
die spätere Lyrik lag nur darin, daß alles Einzelne auf's Correcteste und Muster¬
hafteste ausgearbeitet war. Später wollte mau wo möglich in jedem einzelnen
Sonnett eine totale Weltanschauung geben. — Durch Byron ist dieses rhapsodische
Wesen der Poesie noch populaircr geworden, und Heine hat es durch seine
wunderbare Virtuosität auf die Spitze getrieben. Heine's Kunst besteht darin, daß
er im Wesentlichen frei von seinen Gegenständen ist, andererseits aber doch, wenn
er es will, sich mit großer Kraft und Jntensivität in sie vertieft. Jeder Gegen¬
stand hat seine verschiedenen Seiten, die ihn den verschiedenen Gattungen der
Poesie zugänglich machen. Wir wollen z. B. die Madonna nehmen, die uns
wegen des Werks, welches wir hier besprechen wollen, am nächsten liegt. In der
Madonna liegt einerseits etwas Göttliches, Erhebendes, wir dürfen nnr die
Sixtinische ansehen; andererseits etwas menschlich Rührendes, Gemüthliches,
wenn wir von ihrer Geschichte nur die ideale Seite auffassen; dann auch etwas
Entsetzliches und Schreckliches, wenn wir sie als Symbol einer fanatischen Glau-
benörichtnng, als Schreckbild für alle natürlichen Freuden des Lebens betrachten;
endlich auch etwas Komisches, wenn wir die Begebenheiten, die wir von ihr
wissen, in'ö Volkstümliche übersetzen. Alle diese Seiten können künstlerisch dar¬
gestellt werden. Heine aber versteht eS, alle diese Stimmungen unmittelbar ueben
einander anzuschlagen, und da er mit eben so großer Virtuosität sich der Rührung
wie des komischen Effects zu bemeistern weiß, so werden.wir im ersten Augenblick
geradezu verwirrt und betäubt, bis wir seine Handgriffe genauer in's Ange
gefaßt haben. Allem auch Heine läßt seinen Empfindungen wenigstens immer
einen gewissen Raum. Wir haben Zeit, uns zuerst in Andacht und Rührung
zu versetzen, und darum wirkt die plötzlich über nus stürzende Douche seiner
Ironie um so kräftiger. Bei den neueren Lyrikern ist es anders. Auch wenn
sie rühren wollen, sind sie nicht im Stande, ihre ironischen Einfälle zurück¬
zuhalten, und wenn sie spotten wollen, so quillt ihnen unversehens eine heilige
Thräne ans den Augen. Darin suchen zwar einige neue Kunstrichter das
Höchste, der Poesie, wir aber halten es sür die Spitze der Geschmacklosigkeit,
und jedes natürliche Gefühl wird uns darin beistimmen, denn bei solchem Ver¬
fahren hebt die eine Wirkung die andere aus, und es bleibt nichts zurück als
Verstimmung.

Wenn wir als ein Beispiel dieser neuen lyrischen Richtung hier ein Werk


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[0133] Stimmung und dem Charakter des Stücks entspricht. Das ist schon ganz der „höhere Standpunkt", die Vogelperspective, von der aus unsre jetzigen Lyriker ihre Gegenstände auffassen. Goethe hat z. B. in seinem Faust der Nation ein Beispiel gegeben, wie man durch ein Gedicht, welches eigentlich mir aus einer Reihe von Fragmenten besteht, in dem der innere psychologische und ethische Zusammen¬ hang ein vollständiges Räthsel bleibt, und in dem eine Stimmung der andern widerspricht, dennoch das Publicum elektrisiren könne. Der Unterschied gegen die spätere Lyrik lag nur darin, daß alles Einzelne auf's Correcteste und Muster¬ hafteste ausgearbeitet war. Später wollte mau wo möglich in jedem einzelnen Sonnett eine totale Weltanschauung geben. — Durch Byron ist dieses rhapsodische Wesen der Poesie noch populaircr geworden, und Heine hat es durch seine wunderbare Virtuosität auf die Spitze getrieben. Heine's Kunst besteht darin, daß er im Wesentlichen frei von seinen Gegenständen ist, andererseits aber doch, wenn er es will, sich mit großer Kraft und Jntensivität in sie vertieft. Jeder Gegen¬ stand hat seine verschiedenen Seiten, die ihn den verschiedenen Gattungen der Poesie zugänglich machen. Wir wollen z. B. die Madonna nehmen, die uns wegen des Werks, welches wir hier besprechen wollen, am nächsten liegt. In der Madonna liegt einerseits etwas Göttliches, Erhebendes, wir dürfen nnr die Sixtinische ansehen; andererseits etwas menschlich Rührendes, Gemüthliches, wenn wir von ihrer Geschichte nur die ideale Seite auffassen; dann auch etwas Entsetzliches und Schreckliches, wenn wir sie als Symbol einer fanatischen Glau- benörichtnng, als Schreckbild für alle natürlichen Freuden des Lebens betrachten; endlich auch etwas Komisches, wenn wir die Begebenheiten, die wir von ihr wissen, in'ö Volkstümliche übersetzen. Alle diese Seiten können künstlerisch dar¬ gestellt werden. Heine aber versteht eS, alle diese Stimmungen unmittelbar ueben einander anzuschlagen, und da er mit eben so großer Virtuosität sich der Rührung wie des komischen Effects zu bemeistern weiß, so werden.wir im ersten Augenblick geradezu verwirrt und betäubt, bis wir seine Handgriffe genauer in's Ange gefaßt haben. Allem auch Heine läßt seinen Empfindungen wenigstens immer einen gewissen Raum. Wir haben Zeit, uns zuerst in Andacht und Rührung zu versetzen, und darum wirkt die plötzlich über nus stürzende Douche seiner Ironie um so kräftiger. Bei den neueren Lyrikern ist es anders. Auch wenn sie rühren wollen, sind sie nicht im Stande, ihre ironischen Einfälle zurück¬ zuhalten, und wenn sie spotten wollen, so quillt ihnen unversehens eine heilige Thräne ans den Augen. Darin suchen zwar einige neue Kunstrichter das Höchste, der Poesie, wir aber halten es sür die Spitze der Geschmacklosigkeit, und jedes natürliche Gefühl wird uns darin beistimmen, denn bei solchem Ver¬ fahren hebt die eine Wirkung die andere aus, und es bleibt nichts zurück als Verstimmung. Wenn wir als ein Beispiel dieser neuen lyrischen Richtung hier ein Werk 16*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/133>, abgerufen am 21.06.2024.