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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Jener Ausdruck "Gemüthlichkeit", mit dem häufig ein großer Mißbrauch
getrieben ist, und in dem man die wunderlichsten mystischen Beziehungen gesucht
hat, bezeichnet im Wesentlichen die Individualisirung des Gefühls in einem enge
geschlossenen Kreise. Dem Menschen ist es da gemüthlich, wo er sich gleich¬
sam zu Hause sühlt, wo er den gewohnten Vorstellungen und Formen be¬
gegnet, und sich ungenirt bewegen kann. Blos ans diesem Grunde sind wir
Deutschen geneigt, den fremden Nationen das Gemüth abzusprechen und nur da
eine Ausnahme zu machen, wo wir den bekannten Modulationen des Gefühls
begegnen. Aber es ist in Deutschland selbst ein ähnlicher Unterschied vorhanden.
In der Schilderung von den Oldenburger Zustände", die wir gegeben haben, ist
eine sehr bestimmte Physiognomie des Empfindens und Benehmens, man konnte
sagen, eine traditionelle Grnndmelodie, die für den Niederdeutschen vollkommen den
Begriff der Gemüthlichkeit repräsentirt, obgleich sie der schwäbischen, oder der
rheinischen, oder der Wiener Gemüthlichkeit geradezu entgegengesetzt ist. Wir
sind z. B. überzeugt, daß, wenn in Deutschland ein Dichter auftreten sollte wie
Dickens, er nicht nur den geeignetsten Stoff, sondern auch den passendsten'Styl
seiner Kunst in dieser nieder'sächsischen Gemüthlichkeit finden würde, in dieser
schlauen Treuherzigkeit, in diesem soliden Humor, der sich mit naturwüchsigen Witz
vorzugsweise in den norddeutschen Sprichwörtern ausspricht. Aber jener Umstand,
den mir schon oben berührten, daß in gewissen Zeiten die individuelle Form des
Vorstellens und Empfindens über die allgemeine heraustritt, hat zur Folge, daß
eine bestimmte Art der Gemüthlichkeit gleichsam zur Convenienz erhoben wird,
und die anderen verdrängt. So ist diese Freude am niedlichen, diese Ehrbarkeit
im Spiel und diese Beschränkung auf bestimmte Stoffe des Gefühls, wie sie sich
in den Liedern Uhland's nud seiner Schule ausspricht, in unseren gewöhnlichen
literarischen Cirkeln gewissermaßen zur No.rin des gemüthlichen Wesens gestempelt
worden, und man nimmt keinen Anstand, den Mängel an Sympathie für ver¬
fallene Nonnenklöster, für das Waldhorn und die Flöte, für Frühling und Wald¬
einsamkeit u. s. w. als ein untrügliches Kennzeichen der Gemüthlosigkeit zu betrach¬
ten. Eine sonderbare Einseitigkeit, die aber dnrch die sehr lebhafte Rückwirkung,
welche bei uns die Literatur auf das gesellige Leben ausübt, leicht zu erklären ist.

Mit diesen vorläufigen Bemerkungen soll Uhland's Bedeutung nicht im
Geringsten angetastet.werden; im Gegentheil müssen wir sehr scharf hervorheben,
daß die deutschthümelude Romantik, die in der Wissenschaft die bedeutendste und
scgenreichste Wirkung ausgeübt, in der Poesie nichts Bleibendes geschaffen hat,
als Uhland's Lieder nud Grimm's Märchen -- die letzteren, in sofern sie durch Grimm
ein Gewinn für die Literatur geworden sind. Man kann an Uhland's Lieder
am zweckmäßigsten die Betrachtung über unsre lyrische Poesie überhaupt an¬
knüpfen, d. h. die specifisch deutsche Lyrik, denn unsre höchsten Leistungen ge¬
hören einer andern Richtung an, der Nachbildung der Antike.


Jener Ausdruck „Gemüthlichkeit", mit dem häufig ein großer Mißbrauch
getrieben ist, und in dem man die wunderlichsten mystischen Beziehungen gesucht
hat, bezeichnet im Wesentlichen die Individualisirung des Gefühls in einem enge
geschlossenen Kreise. Dem Menschen ist es da gemüthlich, wo er sich gleich¬
sam zu Hause sühlt, wo er den gewohnten Vorstellungen und Formen be¬
gegnet, und sich ungenirt bewegen kann. Blos ans diesem Grunde sind wir
Deutschen geneigt, den fremden Nationen das Gemüth abzusprechen und nur da
eine Ausnahme zu machen, wo wir den bekannten Modulationen des Gefühls
begegnen. Aber es ist in Deutschland selbst ein ähnlicher Unterschied vorhanden.
In der Schilderung von den Oldenburger Zustände«, die wir gegeben haben, ist
eine sehr bestimmte Physiognomie des Empfindens und Benehmens, man konnte
sagen, eine traditionelle Grnndmelodie, die für den Niederdeutschen vollkommen den
Begriff der Gemüthlichkeit repräsentirt, obgleich sie der schwäbischen, oder der
rheinischen, oder der Wiener Gemüthlichkeit geradezu entgegengesetzt ist. Wir
sind z. B. überzeugt, daß, wenn in Deutschland ein Dichter auftreten sollte wie
Dickens, er nicht nur den geeignetsten Stoff, sondern auch den passendsten'Styl
seiner Kunst in dieser nieder'sächsischen Gemüthlichkeit finden würde, in dieser
schlauen Treuherzigkeit, in diesem soliden Humor, der sich mit naturwüchsigen Witz
vorzugsweise in den norddeutschen Sprichwörtern ausspricht. Aber jener Umstand,
den mir schon oben berührten, daß in gewissen Zeiten die individuelle Form des
Vorstellens und Empfindens über die allgemeine heraustritt, hat zur Folge, daß
eine bestimmte Art der Gemüthlichkeit gleichsam zur Convenienz erhoben wird,
und die anderen verdrängt. So ist diese Freude am niedlichen, diese Ehrbarkeit
im Spiel und diese Beschränkung auf bestimmte Stoffe des Gefühls, wie sie sich
in den Liedern Uhland's nud seiner Schule ausspricht, in unseren gewöhnlichen
literarischen Cirkeln gewissermaßen zur No.rin des gemüthlichen Wesens gestempelt
worden, und man nimmt keinen Anstand, den Mängel an Sympathie für ver¬
fallene Nonnenklöster, für das Waldhorn und die Flöte, für Frühling und Wald¬
einsamkeit u. s. w. als ein untrügliches Kennzeichen der Gemüthlosigkeit zu betrach¬
ten. Eine sonderbare Einseitigkeit, die aber dnrch die sehr lebhafte Rückwirkung,
welche bei uns die Literatur auf das gesellige Leben ausübt, leicht zu erklären ist.

Mit diesen vorläufigen Bemerkungen soll Uhland's Bedeutung nicht im
Geringsten angetastet.werden; im Gegentheil müssen wir sehr scharf hervorheben,
daß die deutschthümelude Romantik, die in der Wissenschaft die bedeutendste und
scgenreichste Wirkung ausgeübt, in der Poesie nichts Bleibendes geschaffen hat,
als Uhland's Lieder nud Grimm's Märchen — die letzteren, in sofern sie durch Grimm
ein Gewinn für die Literatur geworden sind. Man kann an Uhland's Lieder
am zweckmäßigsten die Betrachtung über unsre lyrische Poesie überhaupt an¬
knüpfen, d. h. die specifisch deutsche Lyrik, denn unsre höchsten Leistungen ge¬
hören einer andern Richtung an, der Nachbildung der Antike.


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[0054] Jener Ausdruck „Gemüthlichkeit", mit dem häufig ein großer Mißbrauch getrieben ist, und in dem man die wunderlichsten mystischen Beziehungen gesucht hat, bezeichnet im Wesentlichen die Individualisirung des Gefühls in einem enge geschlossenen Kreise. Dem Menschen ist es da gemüthlich, wo er sich gleich¬ sam zu Hause sühlt, wo er den gewohnten Vorstellungen und Formen be¬ gegnet, und sich ungenirt bewegen kann. Blos ans diesem Grunde sind wir Deutschen geneigt, den fremden Nationen das Gemüth abzusprechen und nur da eine Ausnahme zu machen, wo wir den bekannten Modulationen des Gefühls begegnen. Aber es ist in Deutschland selbst ein ähnlicher Unterschied vorhanden. In der Schilderung von den Oldenburger Zustände«, die wir gegeben haben, ist eine sehr bestimmte Physiognomie des Empfindens und Benehmens, man konnte sagen, eine traditionelle Grnndmelodie, die für den Niederdeutschen vollkommen den Begriff der Gemüthlichkeit repräsentirt, obgleich sie der schwäbischen, oder der rheinischen, oder der Wiener Gemüthlichkeit geradezu entgegengesetzt ist. Wir sind z. B. überzeugt, daß, wenn in Deutschland ein Dichter auftreten sollte wie Dickens, er nicht nur den geeignetsten Stoff, sondern auch den passendsten'Styl seiner Kunst in dieser nieder'sächsischen Gemüthlichkeit finden würde, in dieser schlauen Treuherzigkeit, in diesem soliden Humor, der sich mit naturwüchsigen Witz vorzugsweise in den norddeutschen Sprichwörtern ausspricht. Aber jener Umstand, den mir schon oben berührten, daß in gewissen Zeiten die individuelle Form des Vorstellens und Empfindens über die allgemeine heraustritt, hat zur Folge, daß eine bestimmte Art der Gemüthlichkeit gleichsam zur Convenienz erhoben wird, und die anderen verdrängt. So ist diese Freude am niedlichen, diese Ehrbarkeit im Spiel und diese Beschränkung auf bestimmte Stoffe des Gefühls, wie sie sich in den Liedern Uhland's nud seiner Schule ausspricht, in unseren gewöhnlichen literarischen Cirkeln gewissermaßen zur No.rin des gemüthlichen Wesens gestempelt worden, und man nimmt keinen Anstand, den Mängel an Sympathie für ver¬ fallene Nonnenklöster, für das Waldhorn und die Flöte, für Frühling und Wald¬ einsamkeit u. s. w. als ein untrügliches Kennzeichen der Gemüthlosigkeit zu betrach¬ ten. Eine sonderbare Einseitigkeit, die aber dnrch die sehr lebhafte Rückwirkung, welche bei uns die Literatur auf das gesellige Leben ausübt, leicht zu erklären ist. Mit diesen vorläufigen Bemerkungen soll Uhland's Bedeutung nicht im Geringsten angetastet.werden; im Gegentheil müssen wir sehr scharf hervorheben, daß die deutschthümelude Romantik, die in der Wissenschaft die bedeutendste und scgenreichste Wirkung ausgeübt, in der Poesie nichts Bleibendes geschaffen hat, als Uhland's Lieder nud Grimm's Märchen — die letzteren, in sofern sie durch Grimm ein Gewinn für die Literatur geworden sind. Man kann an Uhland's Lieder am zweckmäßigsten die Betrachtung über unsre lyrische Poesie überhaupt an¬ knüpfen, d. h. die specifisch deutsche Lyrik, denn unsre höchsten Leistungen ge¬ hören einer andern Richtung an, der Nachbildung der Antike.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/54>, abgerufen am 22.12.2024.