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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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alle Liebkosungen. Auf einmal gewahrt sie ein schneidendes Instrument und alsobald
befällt sie das Verlangen, dasselbe zu ergreifen und zwei Morde auf einmal zu verüben;
diesen bösen Gedanken kann sie nur durch die Flucht bezwingen. Uebrigens erweckt der
Anblick eines Messers, einer Scheere, ja selbst-einer Nähnadel bei ihr dieses verderbliche
Verlangen. Ein paar Tage darauf Kopfweh, Magenschmerz; einige Male Ausstoßen
der Speisen, Hartleibigkeit; die verkehrten Ideen haben an Stärke verloren, stellen sich
dafür aber häufiger ein, besonders des Abends, wenn aber Mad. N. sich solchen Zerstreuungen
hingiebt, die am passendsten sind, ihre Aufmerksamkeit zu fixiren, wie z. B. dem Schach¬
spiele. Nach acht Tagen erfährt sie, daß ihr Kind krank sei; sie wird unruhig, es
solgen schlimme Nachrichten, sie wird sehr betrübt, weint heftig und fragt ohne Unter¬
laß um Nachrichten von ihrem Kinde. Sie ist in Verzweiflung und doch empfindet sie
ein heftiges Verlangen, es zu erstechen, oder in ihren Armen zu erdrücken. Dies sind
t>le eigenen Ausdrücke dieser unglücklichen Mutter. Sie bekommt mehr Ruhe und man
kündigt ihr nach 3 Wochen an, daß ihr Kind sich besser befinde, und ihre Entlassung
nahe sei, wodurch sie sehr gerührt wird, sie spricht nur von dem Glücke, nach einer
Abwesenheit.von 3 Monaten wieder zu Hause sein zu können. Am nächsten Tage
eröffnet man ihr, daß ihre Entlassung verschoben sei und sie erstaunt selbst, daß sie
diese unangenehme Neuigkeit so gleichgiltig aufnehmen kann. 6 Tage darauf besuchte
'sie ihr Mann; des Abends ist sie ausgelassen lustig. Es fällt ihr selbst auf, daß sie
bei so viel Ursache zur Trauer und Sorge auf lächerliche Art lustig sein kann. In
der Nacht befiel sie auf einmal Unruhe über ihren Zustand und die Verlängerung ihres
Aufenthalts; sie weint, hat aber keine Mordgedanken mehr. Nach acht Tagen ist sie
ruhig, ihre gewöhnliche Heiterkeit stellte sich wieder ein; sie erwartet mit . Geduld die
Zeit, wo sie wieder zu ihrer Familie zurückkehren soll; ihre physische Gesundheit ist
ziemlich gut und seit mehreren Wochen hat sie auch keine üblen Gedanken mehr, und
nichts desto weniger fürchtet sie, nicht ganz geheilt zu sein. -l i- Tage nachher wird sie
entlassen; man sagt ihr, daß das Kind, welches sie todten wollte, gestorben sei; dieser
Verlust verursachte ihr einen lebhaften und tiefen Schmerz, ohne daß dies ihrer Gesund¬
heit geschadet hätte. Jetzt befindet sie sich vollkommen wohl.'

Dieser Wunsch, die ungewöhnlichen Empfindungen zu beherrschen, versetzt die
Leidenden oft in einen.Zustand von Schmerz, durch den sie zu einer Menge verkehrter
Handlungen hingerissen werden, weil ihre Beurtheilungskraft beeinträchtigt wird und sie
der Angst entgehen wollen, die wie ein Alp zu erdrücken droht. Goethe's Werther
wünscht "sein Blut fließen zu sehen, damit seine Brust Lust bekomme" und er "fühlt
eine Verzweiflung, der eines Mörders gleich." Dabei suchen diese Kranken noch ihre
Handlungen durch die verschiedensten Scheingründe zu bemänteln und sind erzürnt, wenn
man deren Haltlosigkeit nachweist.

Die Vorstellungen sind einem raschen Wechsel unterworfen, aber der Uebergang
geschieht sprungweise und nicht in einer geregelten Ideenassociation. In ihren Reden ent¬
fällt den Leidenden oft das, was sie sagen wollten und macht sie selber stutzig. Die
Psychische Reizbarkeit ist gesteigert; jeder Eindruck hat eine viel raschere Reaction sowol in
der Geistes- als Gemüthssphäre zur Folge. Das normale Verhältniß zwischen den Reizen
der Außenwelt und der Perceptionskraft ist gestört und jene wirken ganz anders, meist
stärker als früher. Dem Kranken erscheint' daher die ganze Außenwelt verändert, weil
er selbst nicht zu beurtheilen vermag, daß er, nicht jene, alienirt ist; und er sich für


alle Liebkosungen. Auf einmal gewahrt sie ein schneidendes Instrument und alsobald
befällt sie das Verlangen, dasselbe zu ergreifen und zwei Morde auf einmal zu verüben;
diesen bösen Gedanken kann sie nur durch die Flucht bezwingen. Uebrigens erweckt der
Anblick eines Messers, einer Scheere, ja selbst-einer Nähnadel bei ihr dieses verderbliche
Verlangen. Ein paar Tage darauf Kopfweh, Magenschmerz; einige Male Ausstoßen
der Speisen, Hartleibigkeit; die verkehrten Ideen haben an Stärke verloren, stellen sich
dafür aber häufiger ein, besonders des Abends, wenn aber Mad. N. sich solchen Zerstreuungen
hingiebt, die am passendsten sind, ihre Aufmerksamkeit zu fixiren, wie z. B. dem Schach¬
spiele. Nach acht Tagen erfährt sie, daß ihr Kind krank sei; sie wird unruhig, es
solgen schlimme Nachrichten, sie wird sehr betrübt, weint heftig und fragt ohne Unter¬
laß um Nachrichten von ihrem Kinde. Sie ist in Verzweiflung und doch empfindet sie
ein heftiges Verlangen, es zu erstechen, oder in ihren Armen zu erdrücken. Dies sind
t>le eigenen Ausdrücke dieser unglücklichen Mutter. Sie bekommt mehr Ruhe und man
kündigt ihr nach 3 Wochen an, daß ihr Kind sich besser befinde, und ihre Entlassung
nahe sei, wodurch sie sehr gerührt wird, sie spricht nur von dem Glücke, nach einer
Abwesenheit.von 3 Monaten wieder zu Hause sein zu können. Am nächsten Tage
eröffnet man ihr, daß ihre Entlassung verschoben sei und sie erstaunt selbst, daß sie
diese unangenehme Neuigkeit so gleichgiltig aufnehmen kann. 6 Tage darauf besuchte
'sie ihr Mann; des Abends ist sie ausgelassen lustig. Es fällt ihr selbst auf, daß sie
bei so viel Ursache zur Trauer und Sorge auf lächerliche Art lustig sein kann. In
der Nacht befiel sie auf einmal Unruhe über ihren Zustand und die Verlängerung ihres
Aufenthalts; sie weint, hat aber keine Mordgedanken mehr. Nach acht Tagen ist sie
ruhig, ihre gewöhnliche Heiterkeit stellte sich wieder ein; sie erwartet mit . Geduld die
Zeit, wo sie wieder zu ihrer Familie zurückkehren soll; ihre physische Gesundheit ist
ziemlich gut und seit mehreren Wochen hat sie auch keine üblen Gedanken mehr, und
nichts desto weniger fürchtet sie, nicht ganz geheilt zu sein. -l i- Tage nachher wird sie
entlassen; man sagt ihr, daß das Kind, welches sie todten wollte, gestorben sei; dieser
Verlust verursachte ihr einen lebhaften und tiefen Schmerz, ohne daß dies ihrer Gesund¬
heit geschadet hätte. Jetzt befindet sie sich vollkommen wohl.'

Dieser Wunsch, die ungewöhnlichen Empfindungen zu beherrschen, versetzt die
Leidenden oft in einen.Zustand von Schmerz, durch den sie zu einer Menge verkehrter
Handlungen hingerissen werden, weil ihre Beurtheilungskraft beeinträchtigt wird und sie
der Angst entgehen wollen, die wie ein Alp zu erdrücken droht. Goethe's Werther
wünscht „sein Blut fließen zu sehen, damit seine Brust Lust bekomme" und er „fühlt
eine Verzweiflung, der eines Mörders gleich." Dabei suchen diese Kranken noch ihre
Handlungen durch die verschiedensten Scheingründe zu bemänteln und sind erzürnt, wenn
man deren Haltlosigkeit nachweist.

Die Vorstellungen sind einem raschen Wechsel unterworfen, aber der Uebergang
geschieht sprungweise und nicht in einer geregelten Ideenassociation. In ihren Reden ent¬
fällt den Leidenden oft das, was sie sagen wollten und macht sie selber stutzig. Die
Psychische Reizbarkeit ist gesteigert; jeder Eindruck hat eine viel raschere Reaction sowol in
der Geistes- als Gemüthssphäre zur Folge. Das normale Verhältniß zwischen den Reizen
der Außenwelt und der Perceptionskraft ist gestört und jene wirken ganz anders, meist
stärker als früher. Dem Kranken erscheint' daher die ganze Außenwelt verändert, weil
er selbst nicht zu beurtheilen vermag, daß er, nicht jene, alienirt ist; und er sich für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/409>, abgerufen am 22.12.2024.