Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.sonderbare Einbildung versiele, damit einer socialen Pflicht genügt zu haben. Die , Wäre diese Blasirtheit und Niedergeschlagenheit, diese Stagnation alles geistigen Denn die Abneigung >gegen die Ideen Staat, Vaterland u. s. w., die bei den Phi¬ Der Patriotismus ist aber unter allen Idealen dasjenige, welches am fruchtbarsten sonderbare Einbildung versiele, damit einer socialen Pflicht genügt zu haben. Die , Wäre diese Blasirtheit und Niedergeschlagenheit, diese Stagnation alles geistigen Denn die Abneigung >gegen die Ideen Staat, Vaterland u. s. w., die bei den Phi¬ Der Patriotismus ist aber unter allen Idealen dasjenige, welches am fruchtbarsten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0286" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94727"/> <p xml:id="ID_891" prev="#ID_890"> sonderbare Einbildung versiele, damit einer socialen Pflicht genügt zu haben. Die<lb/> Sonntagsstimmuug des Kladderadatsch gilt als die Arbeit, die übrige Zeit als 'das Ver¬<lb/> gnügen. Man opfert die Stunde, in der man sich über die verzerrten Gestalten der<lb/> irdischen Politik amüsirt, auf dem Altare des Vaterlandes, und nachdem man so seinem<lb/> Patriotismus Genüge geleistet, und alle Tyrannen siegreich überwunden hat, geht man<lb/> seinem Vergnügen nach, d. h., man begiebt sich in die Bureaux des Ministeriums, wo<lb/> man mit stiller Verachtung die Ordonnanzen der nämlichen Tyrannen ausführt, die man<lb/> kurz vorher auf das gründlichste vernichtet hat. Diese Trennung des Ideals von der<lb/> Wirklichkeit ist eine nicht sehr erfreuliche Erscheinung. Denn wenn auch die' Lumpe<lb/> ohne alle principielle Rechtfertigung ihrer Lumpenbaftigkeit zu jeder Zeit existiren werden,<lb/> so ist es doch sür einen einigermaßen durchgebildeten ästhetischen Sinn unerträglich,<lb/> wenn die freche Lumpeuhaftigkcit sich als Weisheit und Tugend brüstet. Der cynische<lb/> Egoismus, der alle Begriffe des Rechts mit Füßen tritt, ist viel weniger gehässig, als<lb/> diese sentimental gefärbte Niederträchtigkeit.</p><lb/> <p xml:id="ID_892"> , Wäre diese Blasirtheit und Niedergeschlagenheit, diese Stagnation alles geistigen<lb/> Lebens weiter nichts als jene Abspannung, die aus unnatürliche Illusionen-nothwendig<lb/> folgen muß, so wäre der Uebelstand noch nicht so groß; aber sie verbindet sich mit<lb/> einer nur zu realen, ernsthaften und weitgreifenden Neigung unserer Zeit, mit der Nei¬<lb/> gung zum Materialismus. Vorläufig fabelt man zwar noch 'immer von einem unge¬<lb/> heuren Ereignis), von einer Revolution, welche eine neue bessere Welt schaffen soll, und<lb/> vor deren Eintritt es vollkommen gleichgiltig ist, ob man die Scheinexistenzen der Wirk¬<lb/> lichkeit seiner Aufmerksamkeit würdigt oder nicht, oder wenn man weniger sanguinisch ,ist,<lb/> hüllt man sich in das Gewand des Schmerzes und zerrauft sich in den Mußestunden<lb/> das Haar über den Untergang aller Tugend und Gerechtigkeit. Aber das ist doch nur<lb/> äußerlich und dauert nur so lange, als die Begriffe des Idealismus noch nicht ganz<lb/> ausgerottet siud. In der Wirklichkeit ist man ziemlich zufrieden, durch politische Sorgen<lb/> nicht in seinen Geschäften gestört zu werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_893"> Denn die Abneigung >gegen die Ideen Staat, Vaterland u. s. w., die bei den Phi¬<lb/> losophen der uneingeschränkten Verminst einen ziemlich komischen Eindruck machen, hat<lb/> ,im praktischen Leben eine sehr ernsthafte Grundlage. — Man findet, daß die Geschäfte<lb/> besser gehen, wenn sich das Volk um politische Dinge nicht kümmert, und daß man um<lb/> das Vaterland nicht zu sorgen habe, wenn man sich anderwärts ein bequemes Dasein<lb/> bereiten könne. Dergleichen ist im Einzelnen zwar zu allen Zeiten vorgekommen, aber-<lb/> nicht in diesem Umfang. Die ungeheure Ausdehnung des Verkehrs in der neuern Zeit,<lb/> die Herstellung eines grenzenlosen Creditsvstems, welches die großen Kapitalisten zum<lb/> Mittelpunkt aller politischen Bewegung macht, endlich der Glaube an ein Eldorado in<lb/> den Urwäldern Amerika's haben die Liebe zum Vaterlande immer mehr und mehr unter-<lb/> graben. Man hat allmählich die Ideen des Vaterlandes und des Staats eben so in<lb/> das Gebiet der Romantik geworfen, wie die Ideen der Religion. Die ritterlichsten<lb/> Vertreter des Nationalitätsprincips, die Polen und Ungarn, sind nach allen Weltgegenden<lb/> hin zerstreut, und in Deutschland und in Italien' bemüht man sich allmählich, einen<lb/> Vorzug darin zu finden, daß man kein Vaterland hat. Wie die Freihändler auf der<lb/> einen Seite das individuelle Leben der' einzelnen Staaten als ein unberechtigtes dar¬<lb/> stellen, nähert sich von dem entgegengesetzten Standpunkt schleichend die alleinseligmachende<lb/> Kirche, um die Welt zu überführen, daß alles Leben dieser Welt nur ein scheinbares<lb/> sei, und daß man nur im Kloster das'Heil der Seele suchen dürft. Die Einen mochten<lb/> die ganze Welt in Werkhäuser und Maschinen verwandeln, die Anderen einen großen<lb/> Dom darüber bauen, von welchem Luft und Licht ausgeschlossen wären. Der extreme<lb/> Spiritualismus und der extreme Materialismus sind hier wie überall im Bunde.</p><lb/> <p xml:id="ID_894" next="#ID_895"> Der Patriotismus ist aber unter allen Idealen dasjenige, welches am fruchtbarsten<lb/> auf die Entwickelung der Geschichte eingewirkt hat. Der' Materialismus isolirt die</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0286]
sonderbare Einbildung versiele, damit einer socialen Pflicht genügt zu haben. Die
Sonntagsstimmuug des Kladderadatsch gilt als die Arbeit, die übrige Zeit als 'das Ver¬
gnügen. Man opfert die Stunde, in der man sich über die verzerrten Gestalten der
irdischen Politik amüsirt, auf dem Altare des Vaterlandes, und nachdem man so seinem
Patriotismus Genüge geleistet, und alle Tyrannen siegreich überwunden hat, geht man
seinem Vergnügen nach, d. h., man begiebt sich in die Bureaux des Ministeriums, wo
man mit stiller Verachtung die Ordonnanzen der nämlichen Tyrannen ausführt, die man
kurz vorher auf das gründlichste vernichtet hat. Diese Trennung des Ideals von der
Wirklichkeit ist eine nicht sehr erfreuliche Erscheinung. Denn wenn auch die' Lumpe
ohne alle principielle Rechtfertigung ihrer Lumpenbaftigkeit zu jeder Zeit existiren werden,
so ist es doch sür einen einigermaßen durchgebildeten ästhetischen Sinn unerträglich,
wenn die freche Lumpeuhaftigkcit sich als Weisheit und Tugend brüstet. Der cynische
Egoismus, der alle Begriffe des Rechts mit Füßen tritt, ist viel weniger gehässig, als
diese sentimental gefärbte Niederträchtigkeit.
, Wäre diese Blasirtheit und Niedergeschlagenheit, diese Stagnation alles geistigen
Lebens weiter nichts als jene Abspannung, die aus unnatürliche Illusionen-nothwendig
folgen muß, so wäre der Uebelstand noch nicht so groß; aber sie verbindet sich mit
einer nur zu realen, ernsthaften und weitgreifenden Neigung unserer Zeit, mit der Nei¬
gung zum Materialismus. Vorläufig fabelt man zwar noch 'immer von einem unge¬
heuren Ereignis), von einer Revolution, welche eine neue bessere Welt schaffen soll, und
vor deren Eintritt es vollkommen gleichgiltig ist, ob man die Scheinexistenzen der Wirk¬
lichkeit seiner Aufmerksamkeit würdigt oder nicht, oder wenn man weniger sanguinisch ,ist,
hüllt man sich in das Gewand des Schmerzes und zerrauft sich in den Mußestunden
das Haar über den Untergang aller Tugend und Gerechtigkeit. Aber das ist doch nur
äußerlich und dauert nur so lange, als die Begriffe des Idealismus noch nicht ganz
ausgerottet siud. In der Wirklichkeit ist man ziemlich zufrieden, durch politische Sorgen
nicht in seinen Geschäften gestört zu werden.
Denn die Abneigung >gegen die Ideen Staat, Vaterland u. s. w., die bei den Phi¬
losophen der uneingeschränkten Verminst einen ziemlich komischen Eindruck machen, hat
,im praktischen Leben eine sehr ernsthafte Grundlage. — Man findet, daß die Geschäfte
besser gehen, wenn sich das Volk um politische Dinge nicht kümmert, und daß man um
das Vaterland nicht zu sorgen habe, wenn man sich anderwärts ein bequemes Dasein
bereiten könne. Dergleichen ist im Einzelnen zwar zu allen Zeiten vorgekommen, aber-
nicht in diesem Umfang. Die ungeheure Ausdehnung des Verkehrs in der neuern Zeit,
die Herstellung eines grenzenlosen Creditsvstems, welches die großen Kapitalisten zum
Mittelpunkt aller politischen Bewegung macht, endlich der Glaube an ein Eldorado in
den Urwäldern Amerika's haben die Liebe zum Vaterlande immer mehr und mehr unter-
graben. Man hat allmählich die Ideen des Vaterlandes und des Staats eben so in
das Gebiet der Romantik geworfen, wie die Ideen der Religion. Die ritterlichsten
Vertreter des Nationalitätsprincips, die Polen und Ungarn, sind nach allen Weltgegenden
hin zerstreut, und in Deutschland und in Italien' bemüht man sich allmählich, einen
Vorzug darin zu finden, daß man kein Vaterland hat. Wie die Freihändler auf der
einen Seite das individuelle Leben der' einzelnen Staaten als ein unberechtigtes dar¬
stellen, nähert sich von dem entgegengesetzten Standpunkt schleichend die alleinseligmachende
Kirche, um die Welt zu überführen, daß alles Leben dieser Welt nur ein scheinbares
sei, und daß man nur im Kloster das'Heil der Seele suchen dürft. Die Einen mochten
die ganze Welt in Werkhäuser und Maschinen verwandeln, die Anderen einen großen
Dom darüber bauen, von welchem Luft und Licht ausgeschlossen wären. Der extreme
Spiritualismus und der extreme Materialismus sind hier wie überall im Bunde.
Der Patriotismus ist aber unter allen Idealen dasjenige, welches am fruchtbarsten
auf die Entwickelung der Geschichte eingewirkt hat. Der' Materialismus isolirt die
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