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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Verhältniß zwischen theoretischer Gelehrsamkeit und verständiger Thatkraft zeigt, so
muß in ihrer Vergangenheit Etwas gewesen sein, was eine gesunde, harmonische
Entwickelung gewaltsam gestört hat.

Wir werdeu unseren Historikern sehr dankbar sein, wenn sie uns darüber
genanen Aufschluß geben; wenn sie uns sagen, weshalb seit 200 Zähren Deutsch¬
land so weit hinter England zurückgeblieben ist, weshalb in derselben Zeit
Frankreich das deutsche Gebiet so bedeutend schmälern und einen so verhängniß-
vollen Einfluß auf die Geschicke unsrer Station ausüben konnte, weshalb Rußland
in derselben Zeit zu einem übermächtigen Nachbar und zum Schirmherrn Deutschlands
heranwachsen konnte. Offenbar kommt es bei einer solchen geschichtlichen Dar¬
stellung unsrer Vergangenheit nicht sowol auf Erzählung der traurigen Ereignisse
an, fondern ans gründliche Erörterung der Wirkungen, welche diese Ereignisse bis
zur Neuzeit auf Gemüth, Wohlstand und Kraft des Volkes ausgeübt haben.
Nicht die unselige Verfassung des deutschen Reiches, nicht die Zersplitterung der
Nation in zahlreiche Souverainetäten, nicht die religiösen Kämpfe seit der Refor--
nation und die daraus hervorgegangenen Gegensätze in unsrem Leben, auch
nicht die continentale Lage Deutschlands erklären, an sich betrachtet, die bis in
die Neuzeit reichende Verkümmerung der Nation, sondern erst der vollständige Ruin
an Menschenkraft, Capitalien und Production, welcher durch die Folge dieser
Verhältnisse, den 30jährigen Krieg, bewirkt wurde. Dieser furchtbare Völkerkampf
ist mit keinem andern Kriege zu vergleichen, höchstens mit der Verwüstung, welche
die Völkerwanderung hervorgebracht hat. Wir alle in Mittel- und Norddeutsch-
land haben von dem Grunde dieses Kampfes Vieles erfahren, aber die Betrach¬
tung ist uns doch nicht geläufig, daß wir noch jetzt an den Folgen desselben zu
leiden haben. Dies zu beurtheilen lehren uns die bisherige" politischen Geschichten
Deutschlands und der einzelnen Staaten noch nicht hinlänglich. Denn der
Mechanismus der Regierungen kam nach dem Kriege verhältnißmäßig schnell wieder
in Gang; wenn viele begüterte und angesehene Familien durch den Krieg Serarmt,
zerstreut, dnrch Schwert, Feuer und Pest vernichtet waren, so fanden sich schnell
andere, welche die Ueberreste der hinterlassenen Habe sich anzueignen wußten;
wenn die Staaten verwüstet, und die Unterthanen verwildert waren, so war auch
den Regierenden, wie den Geschichtschreibern dnrch das lange Elend der Maßstab
für Volkswohlstand und die Ansprüche an das eigene Leben geringer geworden;
sogar die Staatseinnahmen erreichten ziemlich schnell wieder eine respectable Höhe,
weil die Organisation der Staaten durch den Krieg eine andre, und die Macht
der souveraine fast grenzenlos geworden war. Und oft haben unsre Geschichts¬
schreiber sich über eine gründliche Darstellung der Folgen dieses Krieges dadurch
weggeholfen, daß sie die Bemühungen der Regenten nach dem westphälischen
Frieden aufzählten, dnrch welche dieselben das verödete Land wieder zu füllen,
und die Staatseinnahmen zu vergrößern suchten.


Verhältniß zwischen theoretischer Gelehrsamkeit und verständiger Thatkraft zeigt, so
muß in ihrer Vergangenheit Etwas gewesen sein, was eine gesunde, harmonische
Entwickelung gewaltsam gestört hat.

Wir werdeu unseren Historikern sehr dankbar sein, wenn sie uns darüber
genanen Aufschluß geben; wenn sie uns sagen, weshalb seit 200 Zähren Deutsch¬
land so weit hinter England zurückgeblieben ist, weshalb in derselben Zeit
Frankreich das deutsche Gebiet so bedeutend schmälern und einen so verhängniß-
vollen Einfluß auf die Geschicke unsrer Station ausüben konnte, weshalb Rußland
in derselben Zeit zu einem übermächtigen Nachbar und zum Schirmherrn Deutschlands
heranwachsen konnte. Offenbar kommt es bei einer solchen geschichtlichen Dar¬
stellung unsrer Vergangenheit nicht sowol auf Erzählung der traurigen Ereignisse
an, fondern ans gründliche Erörterung der Wirkungen, welche diese Ereignisse bis
zur Neuzeit auf Gemüth, Wohlstand und Kraft des Volkes ausgeübt haben.
Nicht die unselige Verfassung des deutschen Reiches, nicht die Zersplitterung der
Nation in zahlreiche Souverainetäten, nicht die religiösen Kämpfe seit der Refor--
nation und die daraus hervorgegangenen Gegensätze in unsrem Leben, auch
nicht die continentale Lage Deutschlands erklären, an sich betrachtet, die bis in
die Neuzeit reichende Verkümmerung der Nation, sondern erst der vollständige Ruin
an Menschenkraft, Capitalien und Production, welcher durch die Folge dieser
Verhältnisse, den 30jährigen Krieg, bewirkt wurde. Dieser furchtbare Völkerkampf
ist mit keinem andern Kriege zu vergleichen, höchstens mit der Verwüstung, welche
die Völkerwanderung hervorgebracht hat. Wir alle in Mittel- und Norddeutsch-
land haben von dem Grunde dieses Kampfes Vieles erfahren, aber die Betrach¬
tung ist uns doch nicht geläufig, daß wir noch jetzt an den Folgen desselben zu
leiden haben. Dies zu beurtheilen lehren uns die bisherige» politischen Geschichten
Deutschlands und der einzelnen Staaten noch nicht hinlänglich. Denn der
Mechanismus der Regierungen kam nach dem Kriege verhältnißmäßig schnell wieder
in Gang; wenn viele begüterte und angesehene Familien durch den Krieg Serarmt,
zerstreut, dnrch Schwert, Feuer und Pest vernichtet waren, so fanden sich schnell
andere, welche die Ueberreste der hinterlassenen Habe sich anzueignen wußten;
wenn die Staaten verwüstet, und die Unterthanen verwildert waren, so war auch
den Regierenden, wie den Geschichtschreibern dnrch das lange Elend der Maßstab
für Volkswohlstand und die Ansprüche an das eigene Leben geringer geworden;
sogar die Staatseinnahmen erreichten ziemlich schnell wieder eine respectable Höhe,
weil die Organisation der Staaten durch den Krieg eine andre, und die Macht
der souveraine fast grenzenlos geworden war. Und oft haben unsre Geschichts¬
schreiber sich über eine gründliche Darstellung der Folgen dieses Krieges dadurch
weggeholfen, daß sie die Bemühungen der Regenten nach dem westphälischen
Frieden aufzählten, dnrch welche dieselben das verödete Land wieder zu füllen,
und die Staatseinnahmen zu vergrößern suchten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/214>, abgerufen am 22.12.2024.