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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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ihrer Empfindungen versteht. Sie entwickelt die entgegengesetztesten geistigen Eigen¬
schaften; wie aber diese in einer Person Raum haben können, darüber erhalten
wir keinen Ausschluß. -- Ein anderer weiblicher Charakter, über dessen Wendun¬
gen wir gleichfalls im Dunkeln bleiben, Olga, ist eine Reminiscenz aus Mignon.
Beide Frauen sind nicht ohne Reiz, aber es ist nur ein sinnlicher Reiz. -- Ganz
schlecht dagegen ist eine Lieblingsfignr Gutzkow's, der schon öfters erwähnte
Hack ert, in dem er uns ein Symbol, einen Typus des Volks geben will. Er
ist nicht blos in allen seinen Phasen unwahr und unnatürlich, sondern, was eben
so schlimm ist, bis zum Ekel häßlich; ekelhaft, wo er leidet, und ekelhaft, wo er
sündigt. Es ist die thes rwiw des Romans, die von Jedermann gemißhandelt
wird, für die wir nicht einmal Mitleid empfinden können, weil anch dieses ohne
lebendiges Interesse an den Inhalt der Persönlichkeit unmöglich ist.

Die besten Figuren des Romans sind die satyrisch behandelten, so weit sie
der höhern Gesellschaft und der höhern Literatur angehören. Hier weiß Gutzkow
die Schwäche, Schlechtigkeit und Lächerlichkeit mit großem Scharfsinn aufzuspüren.
Dahin rechnen wir den Justizrath Schlurk', die Geheimeräthin Pauline von
Harder und den Literaten Guido Strömer. Die einzelnen Züge sind eben
so pikant als treffend, und wenn der Zusammenhang auch viel zu wünschen übrig
läßt, so kommt darauf bei dieser Art Charaktere weniger an. Dagegen, haben sie
einen andern wesentlichen Makel. Die poetische Darstellung auch, erbärmlicher
Charaktere muß immer dem höchsten Zweck der Poesie, der sittlichen Läuterung
und Reinigung des Gemüths dienen. Auch dazu ist eine innere Dialektik der
Charaktere nöthig, die zu einer Katastrophe und damit zu einer sittlichen Befriedi¬
gung führen muß. Dazu aber fehlt dem Dichter die Sicherheit, Härte und Ent¬
schlossenheit des sittlichen Gefühls. Wenn er uns eine ganze Zeit hindurch diese
Menschen als die ausgesuchtesten Exemplare menschlicher Hohlheit und Nieder¬
trächtigkeit dargestellt hat, und wenn es dann dazu kommen soll, daß die Wir¬
kungen ihrer Natur sich gegen sie wenden, so wird er aus einmal weich und ge¬
rührt. Er entdeckt plötzlich ungeahnte gute Seiten an ihnen und sucht das Mit¬
leid des Lesers rege zu machen. Das ist eine sehr unzeitige, eine verdammliche
Toleranz! Es ist ein sehr verbrauchtes Manöver, daß der Schurke, der bisher
den Kops hoch getragen hat, wenn er sich entlarvt sieht, in Thränen ausbricht,
und seine Richter darauf aufmerksam macht, daß er auch manche gute Eigenschaften
habe, daß er seiue Kinder und seine Bedienten gut behandle u. s. w>; für ein ge¬
sundes sittliches Urtheil ist ein solcher Effect nnr noch ein Moment mehr des Wider¬
willens und der Verachtung. Wer sich dadurch rühren läßt, zeigt damit, daß er
-- und auch in ästhetischen Dingen -- zum Geschwornen nicht lange, und das
ist zugleich das Kriterium, ob man zum Schaffen wahrer Gestalten sähig ist oder
nicht. Es zeigt sich in diesem Fall, daß die Theorie von den gemischten Charak¬
teren, von den in Rechnung aufzunehmenden Nebenumständen auch für die Poesie


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ihrer Empfindungen versteht. Sie entwickelt die entgegengesetztesten geistigen Eigen¬
schaften; wie aber diese in einer Person Raum haben können, darüber erhalten
wir keinen Ausschluß. — Ein anderer weiblicher Charakter, über dessen Wendun¬
gen wir gleichfalls im Dunkeln bleiben, Olga, ist eine Reminiscenz aus Mignon.
Beide Frauen sind nicht ohne Reiz, aber es ist nur ein sinnlicher Reiz. — Ganz
schlecht dagegen ist eine Lieblingsfignr Gutzkow's, der schon öfters erwähnte
Hack ert, in dem er uns ein Symbol, einen Typus des Volks geben will. Er
ist nicht blos in allen seinen Phasen unwahr und unnatürlich, sondern, was eben
so schlimm ist, bis zum Ekel häßlich; ekelhaft, wo er leidet, und ekelhaft, wo er
sündigt. Es ist die thes rwiw des Romans, die von Jedermann gemißhandelt
wird, für die wir nicht einmal Mitleid empfinden können, weil anch dieses ohne
lebendiges Interesse an den Inhalt der Persönlichkeit unmöglich ist.

Die besten Figuren des Romans sind die satyrisch behandelten, so weit sie
der höhern Gesellschaft und der höhern Literatur angehören. Hier weiß Gutzkow
die Schwäche, Schlechtigkeit und Lächerlichkeit mit großem Scharfsinn aufzuspüren.
Dahin rechnen wir den Justizrath Schlurk', die Geheimeräthin Pauline von
Harder und den Literaten Guido Strömer. Die einzelnen Züge sind eben
so pikant als treffend, und wenn der Zusammenhang auch viel zu wünschen übrig
läßt, so kommt darauf bei dieser Art Charaktere weniger an. Dagegen, haben sie
einen andern wesentlichen Makel. Die poetische Darstellung auch, erbärmlicher
Charaktere muß immer dem höchsten Zweck der Poesie, der sittlichen Läuterung
und Reinigung des Gemüths dienen. Auch dazu ist eine innere Dialektik der
Charaktere nöthig, die zu einer Katastrophe und damit zu einer sittlichen Befriedi¬
gung führen muß. Dazu aber fehlt dem Dichter die Sicherheit, Härte und Ent¬
schlossenheit des sittlichen Gefühls. Wenn er uns eine ganze Zeit hindurch diese
Menschen als die ausgesuchtesten Exemplare menschlicher Hohlheit und Nieder¬
trächtigkeit dargestellt hat, und wenn es dann dazu kommen soll, daß die Wir¬
kungen ihrer Natur sich gegen sie wenden, so wird er aus einmal weich und ge¬
rührt. Er entdeckt plötzlich ungeahnte gute Seiten an ihnen und sucht das Mit¬
leid des Lesers rege zu machen. Das ist eine sehr unzeitige, eine verdammliche
Toleranz! Es ist ein sehr verbrauchtes Manöver, daß der Schurke, der bisher
den Kops hoch getragen hat, wenn er sich entlarvt sieht, in Thränen ausbricht,
und seine Richter darauf aufmerksam macht, daß er auch manche gute Eigenschaften
habe, daß er seiue Kinder und seine Bedienten gut behandle u. s. w>; für ein ge¬
sundes sittliches Urtheil ist ein solcher Effect nnr noch ein Moment mehr des Wider¬
willens und der Verachtung. Wer sich dadurch rühren läßt, zeigt damit, daß er
— und auch in ästhetischen Dingen — zum Geschwornen nicht lange, und das
ist zugleich das Kriterium, ob man zum Schaffen wahrer Gestalten sähig ist oder
nicht. Es zeigt sich in diesem Fall, daß die Theorie von den gemischten Charak¬
teren, von den in Rechnung aufzunehmenden Nebenumständen auch für die Poesie


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[0069] ihrer Empfindungen versteht. Sie entwickelt die entgegengesetztesten geistigen Eigen¬ schaften; wie aber diese in einer Person Raum haben können, darüber erhalten wir keinen Ausschluß. — Ein anderer weiblicher Charakter, über dessen Wendun¬ gen wir gleichfalls im Dunkeln bleiben, Olga, ist eine Reminiscenz aus Mignon. Beide Frauen sind nicht ohne Reiz, aber es ist nur ein sinnlicher Reiz. — Ganz schlecht dagegen ist eine Lieblingsfignr Gutzkow's, der schon öfters erwähnte Hack ert, in dem er uns ein Symbol, einen Typus des Volks geben will. Er ist nicht blos in allen seinen Phasen unwahr und unnatürlich, sondern, was eben so schlimm ist, bis zum Ekel häßlich; ekelhaft, wo er leidet, und ekelhaft, wo er sündigt. Es ist die thes rwiw des Romans, die von Jedermann gemißhandelt wird, für die wir nicht einmal Mitleid empfinden können, weil anch dieses ohne lebendiges Interesse an den Inhalt der Persönlichkeit unmöglich ist. Die besten Figuren des Romans sind die satyrisch behandelten, so weit sie der höhern Gesellschaft und der höhern Literatur angehören. Hier weiß Gutzkow die Schwäche, Schlechtigkeit und Lächerlichkeit mit großem Scharfsinn aufzuspüren. Dahin rechnen wir den Justizrath Schlurk', die Geheimeräthin Pauline von Harder und den Literaten Guido Strömer. Die einzelnen Züge sind eben so pikant als treffend, und wenn der Zusammenhang auch viel zu wünschen übrig läßt, so kommt darauf bei dieser Art Charaktere weniger an. Dagegen, haben sie einen andern wesentlichen Makel. Die poetische Darstellung auch, erbärmlicher Charaktere muß immer dem höchsten Zweck der Poesie, der sittlichen Läuterung und Reinigung des Gemüths dienen. Auch dazu ist eine innere Dialektik der Charaktere nöthig, die zu einer Katastrophe und damit zu einer sittlichen Befriedi¬ gung führen muß. Dazu aber fehlt dem Dichter die Sicherheit, Härte und Ent¬ schlossenheit des sittlichen Gefühls. Wenn er uns eine ganze Zeit hindurch diese Menschen als die ausgesuchtesten Exemplare menschlicher Hohlheit und Nieder¬ trächtigkeit dargestellt hat, und wenn es dann dazu kommen soll, daß die Wir¬ kungen ihrer Natur sich gegen sie wenden, so wird er aus einmal weich und ge¬ rührt. Er entdeckt plötzlich ungeahnte gute Seiten an ihnen und sucht das Mit¬ leid des Lesers rege zu machen. Das ist eine sehr unzeitige, eine verdammliche Toleranz! Es ist ein sehr verbrauchtes Manöver, daß der Schurke, der bisher den Kops hoch getragen hat, wenn er sich entlarvt sieht, in Thränen ausbricht, und seine Richter darauf aufmerksam macht, daß er auch manche gute Eigenschaften habe, daß er seiue Kinder und seine Bedienten gut behandle u. s. w>; für ein ge¬ sundes sittliches Urtheil ist ein solcher Effect nnr noch ein Moment mehr des Wider¬ willens und der Verachtung. Wer sich dadurch rühren läßt, zeigt damit, daß er — und auch in ästhetischen Dingen — zum Geschwornen nicht lange, und das ist zugleich das Kriterium, ob man zum Schaffen wahrer Gestalten sähig ist oder nicht. Es zeigt sich in diesem Fall, daß die Theorie von den gemischten Charak¬ teren, von den in Rechnung aufzunehmenden Nebenumständen auch für die Poesie 8-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/69>, abgerufen am 24.07.2024.