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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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aufzuklären. Es wurden jene geheimen Archive aufgeschlossen, in denen die Briefe
und Tagebücher der schönen Seelen aufbewahrt waren, und mau erstaunte über
die Fülle des Lebens, die das weibliche Gemüth im Verborgenen entwickelt hatte.

Sonderbarer Weise erfolgte diese Wendung in demselben Augenblicke, wo
durch den Einfluß Heine's und die -Nachwirkungen der Julirevolution sich der'
dichterischen Jugend ein dämonischer Geist bemächtigte, der dem stillen, restgnirtcn
Wesen der Goethe'schen Kunstperiode vollständig widersprach. Vielleicht wirkte
der Schreck über diese modernen Titanen, die, um den Himmel zu stürmen, auf
der Erde Alles drunter und drüber warfen, mit dazu, in tren gebliebenen Kreisen
die, Pietät zu steigern. Goethe's Tod gab das Signal, jene alten Zeugnisse der
Liebe und des Gemüths ans Licht zu rufen, durch welche selbst auf die marmor-
kalten Bildwerke der spätern Zeit sich ein warmer Strahl des Lebens ergoß.
Während aber die meisten dieser Sammlungen lediglich der Vergangenheit ange¬
hörten, geben uns zwei weibliche Naturen in ihren Erinnerungen zugleich die
erste" Ahnungen des neuen Geistes, den sie bereits im Herzen getragen hatten:
wir meinen Rahel und Bettine.

Rahel's Schriften, auf die wir bei einer andern Gelegenheit zurückkommen,
wurden erst nach ihrem Tode (1833) herausgegeben. Zwei Jahre darauf erschien
der "Briefwechsel Goethe's mit einem Kinde." Zwischen beide fällt aber ein Er¬
eignis), welches wir hier erwähnen müssen, weil es auf die verhängnißvolle Rich¬
tung, welche die weibliche Bildung zu nehmen drohte, ein sehr ernstes Licht wirst.
Wir meinen den Tod der Charlotte Stieglitz.

In der Blüthe ihrer Jugend, schön, voll der glücklichsten Gaben des Geistes
und des Herzens, mit dem Manu ihrer Wahl vermählt, in dem sie mit über¬
triebener, aber wohl begreiflicher Pietät den Dichter ehrte, geliebt und geachtet
von all ihren Umgebungen, gab sich Charlotte Stieglitz am 29. December 1834
selbst den Tod, um dem ermüdeten und erkrankten Geiste ihres Gemahls dnrch
ein erschütterndes Schicksal eine neue'Spannung und Elasticität zu geben. Man
hätte glauben sollen, daß über eine so ungeheure That sich ein allgemeines Ent¬
setzen erheben würde. Denn bei Charlotte Stieglitz war von jener schwärmerischen,
wilden, krankhaften Phantasie, ans der sich ähnliche' Verirrungen wohl erklären
lassen, nicht die Rede. Wir sehen in ihren Briefen und Tagebüchern denselben
reisen, besonnenen Verstand, dasselbe warme, gesunde und natürliche Gefühl,
welches sie ihr ganzes Leben hindurch bewährt hatte. Daß eine solche Natur
nicht nur aus jenen wahnsinnigen und verbrecherischen Gedanken verfallen, sondern
denselben auch mit der größten Kaltblütigkeit ausführen konnte, das verräth eine
krankhafte Verirrung in dem allgemeinen Denken und Empfinden, die wol einen
heilsamen Schreck hätte hervorrufen sollen. Aber nur die Orthodoxie betrachtete
die Sache von dieser Seite, und sie that es mehr auf eine erbauliche!, als auf
eine belehrende Weise. Die specifische Genialität dagegen war nicht abgeneigt,


aufzuklären. Es wurden jene geheimen Archive aufgeschlossen, in denen die Briefe
und Tagebücher der schönen Seelen aufbewahrt waren, und mau erstaunte über
die Fülle des Lebens, die das weibliche Gemüth im Verborgenen entwickelt hatte.

Sonderbarer Weise erfolgte diese Wendung in demselben Augenblicke, wo
durch den Einfluß Heine's und die -Nachwirkungen der Julirevolution sich der'
dichterischen Jugend ein dämonischer Geist bemächtigte, der dem stillen, restgnirtcn
Wesen der Goethe'schen Kunstperiode vollständig widersprach. Vielleicht wirkte
der Schreck über diese modernen Titanen, die, um den Himmel zu stürmen, auf
der Erde Alles drunter und drüber warfen, mit dazu, in tren gebliebenen Kreisen
die, Pietät zu steigern. Goethe's Tod gab das Signal, jene alten Zeugnisse der
Liebe und des Gemüths ans Licht zu rufen, durch welche selbst auf die marmor-
kalten Bildwerke der spätern Zeit sich ein warmer Strahl des Lebens ergoß.
Während aber die meisten dieser Sammlungen lediglich der Vergangenheit ange¬
hörten, geben uns zwei weibliche Naturen in ihren Erinnerungen zugleich die
erste» Ahnungen des neuen Geistes, den sie bereits im Herzen getragen hatten:
wir meinen Rahel und Bettine.

Rahel's Schriften, auf die wir bei einer andern Gelegenheit zurückkommen,
wurden erst nach ihrem Tode (1833) herausgegeben. Zwei Jahre darauf erschien
der „Briefwechsel Goethe's mit einem Kinde." Zwischen beide fällt aber ein Er¬
eignis), welches wir hier erwähnen müssen, weil es auf die verhängnißvolle Rich¬
tung, welche die weibliche Bildung zu nehmen drohte, ein sehr ernstes Licht wirst.
Wir meinen den Tod der Charlotte Stieglitz.

In der Blüthe ihrer Jugend, schön, voll der glücklichsten Gaben des Geistes
und des Herzens, mit dem Manu ihrer Wahl vermählt, in dem sie mit über¬
triebener, aber wohl begreiflicher Pietät den Dichter ehrte, geliebt und geachtet
von all ihren Umgebungen, gab sich Charlotte Stieglitz am 29. December 1834
selbst den Tod, um dem ermüdeten und erkrankten Geiste ihres Gemahls dnrch
ein erschütterndes Schicksal eine neue'Spannung und Elasticität zu geben. Man
hätte glauben sollen, daß über eine so ungeheure That sich ein allgemeines Ent¬
setzen erheben würde. Denn bei Charlotte Stieglitz war von jener schwärmerischen,
wilden, krankhaften Phantasie, ans der sich ähnliche' Verirrungen wohl erklären
lassen, nicht die Rede. Wir sehen in ihren Briefen und Tagebüchern denselben
reisen, besonnenen Verstand, dasselbe warme, gesunde und natürliche Gefühl,
welches sie ihr ganzes Leben hindurch bewährt hatte. Daß eine solche Natur
nicht nur aus jenen wahnsinnigen und verbrecherischen Gedanken verfallen, sondern
denselben auch mit der größten Kaltblütigkeit ausführen konnte, das verräth eine
krankhafte Verirrung in dem allgemeinen Denken und Empfinden, die wol einen
heilsamen Schreck hätte hervorrufen sollen. Aber nur die Orthodoxie betrachtete
die Sache von dieser Seite, und sie that es mehr auf eine erbauliche!, als auf
eine belehrende Weise. Die specifische Genialität dagegen war nicht abgeneigt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/494>, abgerufen am 04.12.2024.