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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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genommen, umgeben, kommen dann die Knaben, die Morgens die Milch bringen,
auf Schlittschuhen angefahren, und mancher Landmann, der ein Geschäft in der
Stadt hat, kehrt Abends Stunden weit auf dem Stahlschuh nach Hause zurück.
Unter den schlittschuhfahrcnden Herren giebt es natürlich viele Virtuosen; mitunter
thut sich auch eine kleine Gesellschaft zusammen, und macht, wenn das Eis von
guter Beschaffenheit und der Wind günstig ist, mit Eisenbahuschnelle eine Tour
nach Ostfriesland. Schlittenpartien nach den benachbarten Dörfern werden- jeden
Winter ausgeführt. Die Damen werden dann in Stuhlschlitten von schlittschuh-
laufenden Matrosen geschoben: die Herren umschwärmen sie in kühnen Bogen,
und Abends kehrt man mit Fackeln zurück. Wie an den Mannheimer Schulen
das Turnen während der Badezeit ausgesetzt wird, so an den oldenbürger
Schulen während der Periode des Schlittschuhlaufens. In der That sieht man
Knaben, die kaum aus dem El gekrochen sind, mit unternehmenden Mienen die
eben so gesunde als ergötzliche Uebung treiben. Seit einigen Jahren liegen auch
die Damen der Stadt Oldenburg diesem Vergnügen ob; man steht die junge Welt in
Mantel und Muff sich scharenweis ans der Bahn tummeln, nachdem sie anf einem
entlegenen Teiche die Rndimenta überstanden haben, und selbst Schöne von reiferem
Alter schreiben Schnörkel ins Eis. Es ist aber für das weibliche Geschlecht -- von dem
Muff, der die Hände bindet, abgesehen -- in dem langen Kleide ein großes Hinderniß
gegeben, und ich muß gestehen, daß ich nur wenige Frauen habe anmuthig
dahinschweben sehen. Wenn erst die türkisch-amerikanische Tracht in den größeren
Städten Deutschlands, und von da, etwa nach Jahresfrist, in Oldenburg ein¬
gewandert und das Kleid gekürzt haben wird, dann werden die Schlittschuhläufe¬
rinnen leichteres Spiel haben.

Ueber den Gesang der Oldenburger hab' ich oben schon andeutend gesprochen.
Trotz Luther's Reimspruch von den Narren, welche Wein, Weiber und Gesang
verachten, trotz Methfessel'S Motto:


Wo man singt, da laß dich fröhlich nieder:
Böse Menschen haben keine Lieder.

sind die gesanglosen Oldenburger weder Narren noch böse Menschen. Das feuchte
Klima, bei dem die Stimmen nicht gedeihen, und das Phlegma, das dem Gesang
beinahe gram ist, mögen die Schuld tragen. Zwar prosperiren seit einiger Zeit
in den Städten und größeren Orten die Liedertafeln, es sind dies aber nur
Treibhauspflanzen; das Volk, das deu Gesaug nicht künstlich erlernt hat, singt
anch nicht, und wenn sich einmal junge Leute bei außerordentlicher Gelegenheit,
etwa bei einer Brautfahrt, in größerer Anzahl zusammenfinden und, vielleicht
vom Branntwein aufgeregt, ausnahmsweise ein Lied anstimmen, so singen die
Mädchen meist mit so schrillen Kehlstimmen, und die jungen Männer murren und
knurren in so tiefem Baß dazu, daß man sich die Ohren verstopfen möchte.
Wenn die oldenburger Soldaten auf dem Marsch singen, so geschieht es ebenfalls


genommen, umgeben, kommen dann die Knaben, die Morgens die Milch bringen,
auf Schlittschuhen angefahren, und mancher Landmann, der ein Geschäft in der
Stadt hat, kehrt Abends Stunden weit auf dem Stahlschuh nach Hause zurück.
Unter den schlittschuhfahrcnden Herren giebt es natürlich viele Virtuosen; mitunter
thut sich auch eine kleine Gesellschaft zusammen, und macht, wenn das Eis von
guter Beschaffenheit und der Wind günstig ist, mit Eisenbahuschnelle eine Tour
nach Ostfriesland. Schlittenpartien nach den benachbarten Dörfern werden- jeden
Winter ausgeführt. Die Damen werden dann in Stuhlschlitten von schlittschuh-
laufenden Matrosen geschoben: die Herren umschwärmen sie in kühnen Bogen,
und Abends kehrt man mit Fackeln zurück. Wie an den Mannheimer Schulen
das Turnen während der Badezeit ausgesetzt wird, so an den oldenbürger
Schulen während der Periode des Schlittschuhlaufens. In der That sieht man
Knaben, die kaum aus dem El gekrochen sind, mit unternehmenden Mienen die
eben so gesunde als ergötzliche Uebung treiben. Seit einigen Jahren liegen auch
die Damen der Stadt Oldenburg diesem Vergnügen ob; man steht die junge Welt in
Mantel und Muff sich scharenweis ans der Bahn tummeln, nachdem sie anf einem
entlegenen Teiche die Rndimenta überstanden haben, und selbst Schöne von reiferem
Alter schreiben Schnörkel ins Eis. Es ist aber für das weibliche Geschlecht — von dem
Muff, der die Hände bindet, abgesehen — in dem langen Kleide ein großes Hinderniß
gegeben, und ich muß gestehen, daß ich nur wenige Frauen habe anmuthig
dahinschweben sehen. Wenn erst die türkisch-amerikanische Tracht in den größeren
Städten Deutschlands, und von da, etwa nach Jahresfrist, in Oldenburg ein¬
gewandert und das Kleid gekürzt haben wird, dann werden die Schlittschuhläufe¬
rinnen leichteres Spiel haben.

Ueber den Gesang der Oldenburger hab' ich oben schon andeutend gesprochen.
Trotz Luther's Reimspruch von den Narren, welche Wein, Weiber und Gesang
verachten, trotz Methfessel'S Motto:


Wo man singt, da laß dich fröhlich nieder:
Böse Menschen haben keine Lieder.

sind die gesanglosen Oldenburger weder Narren noch böse Menschen. Das feuchte
Klima, bei dem die Stimmen nicht gedeihen, und das Phlegma, das dem Gesang
beinahe gram ist, mögen die Schuld tragen. Zwar prosperiren seit einiger Zeit
in den Städten und größeren Orten die Liedertafeln, es sind dies aber nur
Treibhauspflanzen; das Volk, das deu Gesaug nicht künstlich erlernt hat, singt
anch nicht, und wenn sich einmal junge Leute bei außerordentlicher Gelegenheit,
etwa bei einer Brautfahrt, in größerer Anzahl zusammenfinden und, vielleicht
vom Branntwein aufgeregt, ausnahmsweise ein Lied anstimmen, so singen die
Mädchen meist mit so schrillen Kehlstimmen, und die jungen Männer murren und
knurren in so tiefem Baß dazu, daß man sich die Ohren verstopfen möchte.
Wenn die oldenburger Soldaten auf dem Marsch singen, so geschieht es ebenfalls


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/478>, abgerufen am 24.07.2024.