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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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giebt es viele recht interessante Charaktere, an denen Vieles für uns incommen-
surabel ist, und die über sich selber auch wol uicht ein klares Bewußtsein haben.
Wenn es also blos Aufgabe der Kunst wäre, die Wirklichkeit nachzubilden, so
konnte man annehmen, die neuere Poesie habe durch den Reichthum an auffallen¬
den subjectiven Beobachtungen, durch die Schärfe und das Raffinement der Analyse
bedeutend gewonnen, aber der Dichter soll im Gegentheil klar macheu, was im Le¬
ben unklar ist; er soll sich nnr dann an ein Problem wagen, wenn er die Natur
desselben vollständig durchschaut, und uns zu einer hohem sittlichen Vorstellung zu
erheben weiß. Im Räthsel stehn zu bleiben, ist gegen den Sinn der Kunst.

Mörike steht in -der Mitte zwischen den beiden Irrationalitäten, deren
eine der Restaurationsperiode, die andre der jungdeutschen Literatur angehört.
Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß mau sich in der Goethcscheü
Kunstperiode mit Andacht, Ehrerbietung und Scheu den Mysterien nahte, die
man in der jungdeutschen Zeit mit -einer gewissen Frechheit dem Allgemeiugefühl
entgegenwarf. Die Räthsel, die in den Wanderjahren oder bei Arnim, bei
Justinus Kerner, bei Brentano, zuweilen bei Kleist mit ahnungsvollen Schauern
in das Alltagsleben hineinbrechen, stellen sich als der Abglanz eines höhern,
eines überirdischen Lichtes dar, das uns zwar schreckt, weil wir es mit unsren
Sinne" nicht fassen können, das uns aber zugleich mit dem Gefühl einer gewis¬
sen Ehrfurcht durchdringen soll. Die Nachtseite dagegen, die uns die Neuern
zeigen, ist infernalischer Natur, sie zieht das Geistige in das dunkle Gebiet der
untergeordneten Physik herab. Freilich ist der Gegensatz uur subjectiv, denn
was über dem Menschen oder was unter dem Menschen steht, ist, wenn es sich
in das Geistige drängt,, ziemlich desselben Inhalts; aber dieser subjective Gegeu-
scitz macht sich wenigstens in der künstlerische" Stimmung fühlbar, und hier kann
man nicht sagen, daß die neuere Zeit seit Heine el"e" Fortschritt enthält.

Mörike steht zwischen diesen beiden Extremen, d. h. man erfährt bei ihm
nicht, ob sein Dämonisches göttlicher oder teuflischer Natur sei. , Dadurch wird
freilich die Verwirrung auf die Spitze getrieben, und zuletzt konM man sich vor
wie jener Minister in der Gräfin Dolores, der nach langer Abwesenheit aus sein
Schloß zurückkehrt, und durch die seltsame Art, mit der ihn seine verlassenen An¬
gehörigen empfangen, befremdet wird, bis er endlich zu der Vermuthung kommt,
es seien lauter Gespenster, und sich im Stillen aus dem Staube macht. Wir
wisse" zuweilen nicht, ob wir träumen oder wachen. Aber dieser Mangel ist doch
nach einer andern Seite hin ein Vorzug, denn er bewahrt vor Einseitigkeit. Der
Dichter geht offen und ehrlich auch in seinen Verirrungen zu Werke, er hat keine
versteckte Tendenz, und das ist eben das Anziehende an dem Buch. Wir haben
fortwährend neue Zuge tiefer, intensiver Wahrheit, die uns für den mangelhaften
Organismus des Ganzen entschädigen, und wo der Dichter aus seinem Raffine¬
ment heraustritt, wo er sich z. B. in bestimmte, namentlich künstlerische An-


giebt es viele recht interessante Charaktere, an denen Vieles für uns incommen-
surabel ist, und die über sich selber auch wol uicht ein klares Bewußtsein haben.
Wenn es also blos Aufgabe der Kunst wäre, die Wirklichkeit nachzubilden, so
konnte man annehmen, die neuere Poesie habe durch den Reichthum an auffallen¬
den subjectiven Beobachtungen, durch die Schärfe und das Raffinement der Analyse
bedeutend gewonnen, aber der Dichter soll im Gegentheil klar macheu, was im Le¬
ben unklar ist; er soll sich nnr dann an ein Problem wagen, wenn er die Natur
desselben vollständig durchschaut, und uns zu einer hohem sittlichen Vorstellung zu
erheben weiß. Im Räthsel stehn zu bleiben, ist gegen den Sinn der Kunst.

Mörike steht in -der Mitte zwischen den beiden Irrationalitäten, deren
eine der Restaurationsperiode, die andre der jungdeutschen Literatur angehört.
Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß mau sich in der Goethcscheü
Kunstperiode mit Andacht, Ehrerbietung und Scheu den Mysterien nahte, die
man in der jungdeutschen Zeit mit -einer gewissen Frechheit dem Allgemeiugefühl
entgegenwarf. Die Räthsel, die in den Wanderjahren oder bei Arnim, bei
Justinus Kerner, bei Brentano, zuweilen bei Kleist mit ahnungsvollen Schauern
in das Alltagsleben hineinbrechen, stellen sich als der Abglanz eines höhern,
eines überirdischen Lichtes dar, das uns zwar schreckt, weil wir es mit unsren
Sinne» nicht fassen können, das uns aber zugleich mit dem Gefühl einer gewis¬
sen Ehrfurcht durchdringen soll. Die Nachtseite dagegen, die uns die Neuern
zeigen, ist infernalischer Natur, sie zieht das Geistige in das dunkle Gebiet der
untergeordneten Physik herab. Freilich ist der Gegensatz uur subjectiv, denn
was über dem Menschen oder was unter dem Menschen steht, ist, wenn es sich
in das Geistige drängt,, ziemlich desselben Inhalts; aber dieser subjective Gegeu-
scitz macht sich wenigstens in der künstlerische» Stimmung fühlbar, und hier kann
man nicht sagen, daß die neuere Zeit seit Heine el»e» Fortschritt enthält.

Mörike steht zwischen diesen beiden Extremen, d. h. man erfährt bei ihm
nicht, ob sein Dämonisches göttlicher oder teuflischer Natur sei. , Dadurch wird
freilich die Verwirrung auf die Spitze getrieben, und zuletzt konM man sich vor
wie jener Minister in der Gräfin Dolores, der nach langer Abwesenheit aus sein
Schloß zurückkehrt, und durch die seltsame Art, mit der ihn seine verlassenen An¬
gehörigen empfangen, befremdet wird, bis er endlich zu der Vermuthung kommt,
es seien lauter Gespenster, und sich im Stillen aus dem Staube macht. Wir
wisse» zuweilen nicht, ob wir träumen oder wachen. Aber dieser Mangel ist doch
nach einer andern Seite hin ein Vorzug, denn er bewahrt vor Einseitigkeit. Der
Dichter geht offen und ehrlich auch in seinen Verirrungen zu Werke, er hat keine
versteckte Tendenz, und das ist eben das Anziehende an dem Buch. Wir haben
fortwährend neue Zuge tiefer, intensiver Wahrheit, die uns für den mangelhaften
Organismus des Ganzen entschädigen, und wo der Dichter aus seinem Raffine¬
ment heraustritt, wo er sich z. B. in bestimmte, namentlich künstlerische An-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/315>, abgerufen am 04.07.2024.