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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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hat sie aber auf eine reflectirte, gebildete, tugendhafte Gesellschaft übertragen.
Die beiden Liebenden sind schuldlos im physischen Sinne dieses Worts, und der
Liebhaber fällt, weil er diesen Umstand verschweigt. In ästhetischer Beziehung
wird dadurch der widerwärtige Eindruck nur noch gesteigert. Das Theater der
übrigen Nationen zeigt uns Verirrungen, die an Wildheit und Zügellostgkeit den
geschilderten Nichts nachgeben, aber wir empfinden darin doch immer eine gewisse
innere Nothwendigkeit; sie stellen uns die Ausflüsse einer bestimmten, wenn anch
schlimmen Denkart dar, die wir bis zu ihrer Quelle verfolge" und.vom histvw
schen Standpunkt verstehen können. Hier aber empfinden wir Nichts, als die
reine Willkür, die das Abnorme, Entsetzliche und Abscheuliche hervorsucht, weil
sie das Tragische uicht zu finden weiß.

Es versteht sich von selbst, daß die historischen Stücke "rendues werthvoller
sind. Die Geschichte zwingt zu einiger Beschränkung und giebt dem Verstände
hinreichenden Stoff zu fruchtbaren Ideen. Immermann'ö erstes historisches Stück
war "Friedrich II." (1828). Schon durch die würdige, ernste Sprache, durch
die wenigstens in der Intention zu billigende Charakteristik und dnrch den innern
Zusammenhang der Handlung unterscheidet es sich sehr vortheilhaft von den gleich¬
zeitigen romantischen Stücken. Wenn man ihm vorgeworfen hat, daß es in
seiner Anlage an Wallenstein erinnert, weil in beiden Stücken eine unsichtbare, un¬
erklärliche geistige Macht, deren man nicht Herr wird, weil sie nirgend eine greif¬
bare Gestalt annimmt, den entschlossenen Willen des Helden zu Boden drückt,
so wäre an sich gegen den Werth des Stücks dadurch noch Nichts bewiesen, denn
die Aehnlichkeit der sittlichen Motive schließt eine sehr verschiedenartige und eigen¬
thümliche Ausführung nicht aus. Allein der Uebelstand liegt in einem andern
Punkte. Immermann hat sich später gegen die Hohenstaufentragödien überhaupt
ausgesprochen, weil der Streit zwischen Kaiserthum und Papstthum für uns
etwas blos Historisches sei und kein lebendiges Interesse mehr erregen könne.
Nun steht aber von allen Ideen, welche das Mittelalter verarbeitet hat, keine
unsrem gegenwärtigen Bewußtsein so nahe^ als der Conflict zwischen kirchlicher
und weltlicher, zwischen supranaturalistischer und realistischer Gesinnung, und wir
können keine Form finden, in welcher dieser noch immerfort sich erneuernde Con¬
flict einen so angemessenen poetischen Ausdruck annimmt, eine so klare und geord¬
nete Perspective zuläßt, als jener Kampf des Ghibellinismus gegen die Hierar¬
chie, in welchem beide Principien ihre volle Kraft concentrirten. Der Mangel
liegt nicht im Stoff, sondern im Dichter. Immermann ist nicht im Stande ge¬
wesen, sich die kirchliche Gesinnung als Leidenschaft zu denken, eben so wenig
wie bei ihm der Haß gegen diese Gesinnung zur Leidenschaft geworden ist. Aber
nur in dieser Leidenschaft, nnr in diesem Haß gewinnen diese Ideen diejenige
Gestalt, die sie zu einer poetischen Darstellung berechtigt. Wenn man die Gluth
der Religiosität und den Hochmuth des Selbstbewußtseins, der durch das Voll-


hat sie aber auf eine reflectirte, gebildete, tugendhafte Gesellschaft übertragen.
Die beiden Liebenden sind schuldlos im physischen Sinne dieses Worts, und der
Liebhaber fällt, weil er diesen Umstand verschweigt. In ästhetischer Beziehung
wird dadurch der widerwärtige Eindruck nur noch gesteigert. Das Theater der
übrigen Nationen zeigt uns Verirrungen, die an Wildheit und Zügellostgkeit den
geschilderten Nichts nachgeben, aber wir empfinden darin doch immer eine gewisse
innere Nothwendigkeit; sie stellen uns die Ausflüsse einer bestimmten, wenn anch
schlimmen Denkart dar, die wir bis zu ihrer Quelle verfolge» und.vom histvw
schen Standpunkt verstehen können. Hier aber empfinden wir Nichts, als die
reine Willkür, die das Abnorme, Entsetzliche und Abscheuliche hervorsucht, weil
sie das Tragische uicht zu finden weiß.

Es versteht sich von selbst, daß die historischen Stücke »rendues werthvoller
sind. Die Geschichte zwingt zu einiger Beschränkung und giebt dem Verstände
hinreichenden Stoff zu fruchtbaren Ideen. Immermann'ö erstes historisches Stück
war „Friedrich II." (1828). Schon durch die würdige, ernste Sprache, durch
die wenigstens in der Intention zu billigende Charakteristik und dnrch den innern
Zusammenhang der Handlung unterscheidet es sich sehr vortheilhaft von den gleich¬
zeitigen romantischen Stücken. Wenn man ihm vorgeworfen hat, daß es in
seiner Anlage an Wallenstein erinnert, weil in beiden Stücken eine unsichtbare, un¬
erklärliche geistige Macht, deren man nicht Herr wird, weil sie nirgend eine greif¬
bare Gestalt annimmt, den entschlossenen Willen des Helden zu Boden drückt,
so wäre an sich gegen den Werth des Stücks dadurch noch Nichts bewiesen, denn
die Aehnlichkeit der sittlichen Motive schließt eine sehr verschiedenartige und eigen¬
thümliche Ausführung nicht aus. Allein der Uebelstand liegt in einem andern
Punkte. Immermann hat sich später gegen die Hohenstaufentragödien überhaupt
ausgesprochen, weil der Streit zwischen Kaiserthum und Papstthum für uns
etwas blos Historisches sei und kein lebendiges Interesse mehr erregen könne.
Nun steht aber von allen Ideen, welche das Mittelalter verarbeitet hat, keine
unsrem gegenwärtigen Bewußtsein so nahe^ als der Conflict zwischen kirchlicher
und weltlicher, zwischen supranaturalistischer und realistischer Gesinnung, und wir
können keine Form finden, in welcher dieser noch immerfort sich erneuernde Con¬
flict einen so angemessenen poetischen Ausdruck annimmt, eine so klare und geord¬
nete Perspective zuläßt, als jener Kampf des Ghibellinismus gegen die Hierar¬
chie, in welchem beide Principien ihre volle Kraft concentrirten. Der Mangel
liegt nicht im Stoff, sondern im Dichter. Immermann ist nicht im Stande ge¬
wesen, sich die kirchliche Gesinnung als Leidenschaft zu denken, eben so wenig
wie bei ihm der Haß gegen diese Gesinnung zur Leidenschaft geworden ist. Aber
nur in dieser Leidenschaft, nnr in diesem Haß gewinnen diese Ideen diejenige
Gestalt, die sie zu einer poetischen Darstellung berechtigt. Wenn man die Gluth
der Religiosität und den Hochmuth des Selbstbewußtseins, der durch das Voll-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/216>, abgerufen am 24.07.2024.