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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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ohne Unterschied für jeden Menschen, der lesen kann, für jeden Stand, jedes
Alter und jedes Geschlecht. Es ist seiner Form nach ein unterhaltendes Lesebuch,
in welchem die interessanten Ereignisse der Geschichte in der naiven Weise der
Quellen und nach einer Auswahl, die mehr auf die Darstellungsfähigkeit des
Einzelnen, als auf den innern Zusammenhang Rücksicht nimmt, in anspruchsloser
Aufeinanderfolge mitgetheilt werden.

Schlosser's alte Geschichte dagegen setzt wenigstens in ihrer Anlage ein
Publicum voraus, welches von deu Begebenheiten bereits unterrichtet ist und sich
nur von einem gründlichen Kenner ein verständiges Urtheil darüber verschaffen
will. Die Reflexion überwiegt, wenn auch die Form der Erzählung beibehalten
ist. Auf eine Vollständigkeit der Berichte ist es nicht abgesehen. In diesem
Sinn hat Schlosser's Werk Aehnlichkeit mit den sogenannten Philosophien der
Geschichte, obgleich es im Uebrigen eine diametral entgegengesetzte Tendenz ver¬
folgt. Der pragmatische Geschichtschreiber wendet seine Aufmerksamkeit auf das
Einzelne und auf den Zusammenhang des Einzelnen; wie ein Reisender begiebt er
sich in die verschiedenen Perioden der-Weltgeschichte, und sucht überall den ge¬
heimen Zusammenhang der Thatsachen aufzuspüren, indem er dabei seine eigenen
. sittlichen und ästhetischen Voraussetzungen mitbringt. Er verhält sich seineu Stoffen
gegenüber kritisch, und der Werth seiner Darstellung steht und fällt mit dem Werth
der Ansichten, von denen er ausgeht.

Duncker bemüht sich,,, diese beiden Methoden zu vereinigen. Seine Ge¬
schichte setzt nicht eine Kenntniß des Materials voraus, sie giebt vielmehr Alles,
die Begebenheiten, die Sagen und Vorstellungen, der Völker über dieselben, ihre
Sitten, Gebräuche, Religion in einer künstlerischen Gruppirung. Das Urtheil
bleibt nicht aus, aber es wird so viel als möglich von den Stoffen selbst her¬
geleitet, nicht ihnen entgegengebracht.

Die Fähigkeit, dieser Methode der Behandlung zu folgen, ist allerdings nicht
eine unbeschränkte; sie setzt die allgemeine Bildung voraus, ungefähr in der Aus¬
dehnung, wie sie durch den Gymnastaluuterricht erworben wird. Auf dieses
gebildete, noch immer sehr zahlreiche Publicum ist das Werk berechnet, und es
verdient von Seiten desselben die lebhafteste Theilnahme und Anerkennung.

Zuerst ist es zu loben um dessen willen, was es nicht giebt. Bei dem ge¬
rade in den letzten Jahren so weit verbreiteten Einfluß, der Philosophie auf unsre
Bildung liegt es nahe, daß jeder Einzelne sich über den Ursprung und die Be¬
deutung des Menschengeschlechts, in seiner Totalität aufgefaßt, eine bestimmte
Meinung zu bilden sucht. Dieses Philosophien über die .Geschichte hat in einer
Zeit, die von Vorurtheilen so überfüllt war, daß sie das Klarste und Einfachste
nicht zu übersehen vermochte, einen sehr segensreichen Einfluß ausgeübt. In
unsrer Zeit ist es aber nicht mehr am Ort. Gedacht und phantasirt, haben wir
hinlänglich über das, was die Menschheit sein könnte und sein sollte. Jetzt wird


ohne Unterschied für jeden Menschen, der lesen kann, für jeden Stand, jedes
Alter und jedes Geschlecht. Es ist seiner Form nach ein unterhaltendes Lesebuch,
in welchem die interessanten Ereignisse der Geschichte in der naiven Weise der
Quellen und nach einer Auswahl, die mehr auf die Darstellungsfähigkeit des
Einzelnen, als auf den innern Zusammenhang Rücksicht nimmt, in anspruchsloser
Aufeinanderfolge mitgetheilt werden.

Schlosser's alte Geschichte dagegen setzt wenigstens in ihrer Anlage ein
Publicum voraus, welches von deu Begebenheiten bereits unterrichtet ist und sich
nur von einem gründlichen Kenner ein verständiges Urtheil darüber verschaffen
will. Die Reflexion überwiegt, wenn auch die Form der Erzählung beibehalten
ist. Auf eine Vollständigkeit der Berichte ist es nicht abgesehen. In diesem
Sinn hat Schlosser's Werk Aehnlichkeit mit den sogenannten Philosophien der
Geschichte, obgleich es im Uebrigen eine diametral entgegengesetzte Tendenz ver¬
folgt. Der pragmatische Geschichtschreiber wendet seine Aufmerksamkeit auf das
Einzelne und auf den Zusammenhang des Einzelnen; wie ein Reisender begiebt er
sich in die verschiedenen Perioden der-Weltgeschichte, und sucht überall den ge¬
heimen Zusammenhang der Thatsachen aufzuspüren, indem er dabei seine eigenen
. sittlichen und ästhetischen Voraussetzungen mitbringt. Er verhält sich seineu Stoffen
gegenüber kritisch, und der Werth seiner Darstellung steht und fällt mit dem Werth
der Ansichten, von denen er ausgeht.

Duncker bemüht sich,,, diese beiden Methoden zu vereinigen. Seine Ge¬
schichte setzt nicht eine Kenntniß des Materials voraus, sie giebt vielmehr Alles,
die Begebenheiten, die Sagen und Vorstellungen, der Völker über dieselben, ihre
Sitten, Gebräuche, Religion in einer künstlerischen Gruppirung. Das Urtheil
bleibt nicht aus, aber es wird so viel als möglich von den Stoffen selbst her¬
geleitet, nicht ihnen entgegengebracht.

Die Fähigkeit, dieser Methode der Behandlung zu folgen, ist allerdings nicht
eine unbeschränkte; sie setzt die allgemeine Bildung voraus, ungefähr in der Aus¬
dehnung, wie sie durch den Gymnastaluuterricht erworben wird. Auf dieses
gebildete, noch immer sehr zahlreiche Publicum ist das Werk berechnet, und es
verdient von Seiten desselben die lebhafteste Theilnahme und Anerkennung.

Zuerst ist es zu loben um dessen willen, was es nicht giebt. Bei dem ge¬
rade in den letzten Jahren so weit verbreiteten Einfluß, der Philosophie auf unsre
Bildung liegt es nahe, daß jeder Einzelne sich über den Ursprung und die Be¬
deutung des Menschengeschlechts, in seiner Totalität aufgefaßt, eine bestimmte
Meinung zu bilden sucht. Dieses Philosophien über die .Geschichte hat in einer
Zeit, die von Vorurtheilen so überfüllt war, daß sie das Klarste und Einfachste
nicht zu übersehen vermochte, einen sehr segensreichen Einfluß ausgeübt. In
unsrer Zeit ist es aber nicht mehr am Ort. Gedacht und phantasirt, haben wir
hinlänglich über das, was die Menschheit sein könnte und sein sollte. Jetzt wird


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/172>, abgerufen am 24.07.2024.