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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Leben behält; in einzelnen Begünstigten erscheint diese Bildungskraft, welche keinem
Menschen ganz fehlt, besonders mächtig, oder auch besonders originell entwickelt. Solche
Lieblinge des Volksgeistes pflegen freilich auch sonst tüchtige Männer zu sein. Am
bedeutendsten wirkten z. B. im 16. Jahrhundert Luther und nächst ihm Hans Sachs und
der originelle Fischart. In dem armen Jahrhundert des dreißigjährigen Krieges,
wo die bildende Kraft der Sprache gedrückt war wie die ganze Nation, waren
es die reinlicheren oder kräftigen Talente der schlesischen Dichterschule, Opitz und
von Logan und der kräftige A. Gryphius, im, vorigen Jahrhundert Lessing,
Goethe und Schiller. Diese sind natürlich auch am sorgfältigsten ausgezogen
worden, vor Allen Luther und Goethe, in denen die schöpferische Sprachkraft
merkwürdig stark entwickelt ist.

Es schien einige Jahre zweifelhaft, ob die Brüder Grimm, durch wichtige
andere Arbeiten in Anspruch genommen, auch die Zeit behalten würden, das
begonnene Riesenwerk zu vollenden. Denn was bis dahin von den Anderen und
ihnen selbst gethan worden war, -- denn auch sie hatten einzelne Schriftsteller aus¬
gezogen, -- das erschien immer noch wenig gegen die Hauptarbeit, den Riesenbau
aus den vorhandenen Bausteinen aufzuführen.

Daß sie jetzt doch daran gegangen sind, kann als ein Ereigniß in der deutschen
Literatur betrachtet werden. Bei ihrer Thätigkeit und den Anordnungen, welche
für alle Fälle getroffen sind, ist nicht mehr zu zweifeln, daß das große deutsche
Wörterbuch in der nächsten Zeit vollendet sein wird. Bereits liegen die ersten fünf
Bogen nebst der Ankündigung der Weidmann'schen Buchhandlung gedruckt vor
uns. Es soll von der Ostermesse dieses Jahres ab in Lieferungen erscheinen,
die Lieferung zu Is Bogen, in mäßigem Preise, um das große Werk auch dem
weniger Bemittelten zugänglich zu machen.

Der Mangel eines deutschen Wörterbuches, in welchem der gesammte Schatz
der deutschen Sprache niedergelegt ist, welcher seit Bildung des neuhochdeutschen von
unsrer Nation erhalten und geschaffen wurde, ist schon lange fühlbar. Das große
Adelung'sche Wörterbuch, so verdienstlich und populair das Unternehmen zu seiner
Zeit war, umfaßt nicht einmal mehr unsre größten Dichter, und wurde seit
seinem Erscheinen als mangelhaft und ungenau empfunden. Da das Wörterbuch
der Brüder Grimm sich die höhere Ausgabe gestellt hat, ein Bild zu geben von
der Entwickelung, der Größe und dem Umfang der deutschen Sprache, und da¬
durch auch ein Abbild der deutschen Bildung, wie sie sich in den Veränderungen
von Form und Bedeutung der Wörter niedergeschlagen hat, so wird das Werk
nicht mir ein Buch für Gelehrte, Lehrer und andere Männer vom Fach, sondern
in der That ein belehrendes und unterhaltendes Werk für die Gebildeten aller
Stände. Kein einzelner Mensch kennt seine Sprache vollständig, jeder braucht
nur einen größern oder kleinern Theil derselben, und keinem einzelnen ist immer
klar, mit welchem Recht und welcher Bedeutung er dieses und jenes Wort in der


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Leben behält; in einzelnen Begünstigten erscheint diese Bildungskraft, welche keinem
Menschen ganz fehlt, besonders mächtig, oder auch besonders originell entwickelt. Solche
Lieblinge des Volksgeistes pflegen freilich auch sonst tüchtige Männer zu sein. Am
bedeutendsten wirkten z. B. im 16. Jahrhundert Luther und nächst ihm Hans Sachs und
der originelle Fischart. In dem armen Jahrhundert des dreißigjährigen Krieges,
wo die bildende Kraft der Sprache gedrückt war wie die ganze Nation, waren
es die reinlicheren oder kräftigen Talente der schlesischen Dichterschule, Opitz und
von Logan und der kräftige A. Gryphius, im, vorigen Jahrhundert Lessing,
Goethe und Schiller. Diese sind natürlich auch am sorgfältigsten ausgezogen
worden, vor Allen Luther und Goethe, in denen die schöpferische Sprachkraft
merkwürdig stark entwickelt ist.

Es schien einige Jahre zweifelhaft, ob die Brüder Grimm, durch wichtige
andere Arbeiten in Anspruch genommen, auch die Zeit behalten würden, das
begonnene Riesenwerk zu vollenden. Denn was bis dahin von den Anderen und
ihnen selbst gethan worden war, — denn auch sie hatten einzelne Schriftsteller aus¬
gezogen, — das erschien immer noch wenig gegen die Hauptarbeit, den Riesenbau
aus den vorhandenen Bausteinen aufzuführen.

Daß sie jetzt doch daran gegangen sind, kann als ein Ereigniß in der deutschen
Literatur betrachtet werden. Bei ihrer Thätigkeit und den Anordnungen, welche
für alle Fälle getroffen sind, ist nicht mehr zu zweifeln, daß das große deutsche
Wörterbuch in der nächsten Zeit vollendet sein wird. Bereits liegen die ersten fünf
Bogen nebst der Ankündigung der Weidmann'schen Buchhandlung gedruckt vor
uns. Es soll von der Ostermesse dieses Jahres ab in Lieferungen erscheinen,
die Lieferung zu Is Bogen, in mäßigem Preise, um das große Werk auch dem
weniger Bemittelten zugänglich zu machen.

Der Mangel eines deutschen Wörterbuches, in welchem der gesammte Schatz
der deutschen Sprache niedergelegt ist, welcher seit Bildung des neuhochdeutschen von
unsrer Nation erhalten und geschaffen wurde, ist schon lange fühlbar. Das große
Adelung'sche Wörterbuch, so verdienstlich und populair das Unternehmen zu seiner
Zeit war, umfaßt nicht einmal mehr unsre größten Dichter, und wurde seit
seinem Erscheinen als mangelhaft und ungenau empfunden. Da das Wörterbuch
der Brüder Grimm sich die höhere Ausgabe gestellt hat, ein Bild zu geben von
der Entwickelung, der Größe und dem Umfang der deutschen Sprache, und da¬
durch auch ein Abbild der deutschen Bildung, wie sie sich in den Veränderungen
von Form und Bedeutung der Wörter niedergeschlagen hat, so wird das Werk
nicht mir ein Buch für Gelehrte, Lehrer und andere Männer vom Fach, sondern
in der That ein belehrendes und unterhaltendes Werk für die Gebildeten aller
Stände. Kein einzelner Mensch kennt seine Sprache vollständig, jeder braucht
nur einen größern oder kleinern Theil derselben, und keinem einzelnen ist immer
klar, mit welchem Recht und welcher Bedeutung er dieses und jenes Wort in der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/13>, abgerufen am 24.07.2024.