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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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von denen des Drama's sein müssen; daß es eine ganz andere Handlung, eine
ganz andere Charakterzeichnung, eine ganz andere Ausmalung der Situationen
und Empfindungen verlangt. Man sollte meinen, daß zur Feststellung dieses
Verhältnisses Niemand größern Beruf habe, als Richard Wagner, der sich so-
wol in der Komposition, wie in der Dichtung versucht hat, der ein ernstes, ge-
wissenhaftes Streben sür die Kunst mitbringt, und bei dem wenigstens im Ganzen
genommen die Reflexion die Unmittelbarkeit überwiegt. Wenn das Letztere zwar
nicht als ein unübersteigliches Hinderniß, aber doch gewiß als kein günstiges
Moment für seine künstlerische Thätigkeit betrachtet werden kann, so scheint es ihn
um so mehr zu einer Feststellung der Principien zu befähigen und ihn aufzufordern,
für die Musik etwas Aehnliches zu werden, was Lessing für die Poesie geworden ist.

ES ist auch nicht zu läugnen, daß sich in dem vorliegenden Buch, namentlich
wo sich Wagner auf ein ganz bestimmtes Thema beschränkt, einzelne vortreff¬
liche Winke zu finden sind; aber als Ganzes aufgefaßt, hinterläßt es eiuen sehr
unbefriedigender Eindruck, und erregt fast den Verdacht, der Verfasser habe nicht
gründlich und gewissenhaft seinen Gegenstand prüfen, sondern nur durch unge¬
wöhnliche Behauptungen seinen Geist leuchten lassen wollen. Der Grund liegt
darin, daß er nicht von einem hingebenden Studium des Einzelnen ausgeht, son¬
dern sich das Gerüst seiner Theorien vorher aufbaut und daun an dasselbe anknüpft,
was ihm gerade paßt, ohne zu fragen, ob es dadurch auch seiue richtige Stellung
erhält. Daraus geht eine unerhörte Einseitigkeit hervor, nicht jene Einseitigkeit,
die auf Unkenntniß beruht, sondern jene schlimmere, die im Rausch der sophisti¬
schen Deduction gewaltsam die Angen gegen das Wirkliche verschließt. Natür¬
lich führt das zu Widersprüche", >vou denen ich hier uur ein Beispiel hervor¬
heben will. Er erklärt von Meyerbeer, daß sein musikalisches Talent nicht nur
im Verhältniß zum absoluten Maßstab, sondern auch im Verhältniß zu den meisten
lebenden Componisten (die er ebeu vorher der totalsten Impotenz bezüchtigt hat)
völlig gleich Null ist, und dann giebt er wieder zu, daß sich einzelne Stellen bei
ihm vorfinden, die ihm ganz eigen angehören, und deuen sich an musikalischen
Werth uur die Leistungen der größten Meister an die Seite stellen lassen. Das
ist doch wol ein handgreiflicl)er Widerspruch, denn aus Nichts wird Nichts, und
wo wirklich kein Talent vorhanden ist, einer Empfindung den musikalischen Aus¬
druck zu verleihen, da ist es auch nicht möglich, irgend eine einzelne Stelle zu Staude
zu bringen. Der Widerspruch geht aber keineswegs aus irgeud einer individuellen
Nebenabsicht hervor, sondern- er ist ans dem Uebermaß theoretischer Verallgemei¬
nerung zu erklären. Zuerst kommt es dem Kritiker nämlich darauf an, die Verrücktheit,
zu der die gegenwärtige Oper nach seiner Ansicht nicht durch zufällige Verirrun-
gen, souderu durch die nothwendige Entwickelung ihres Wesens gekommen ist, an
einem Beispiel schlagend nachzuweisen, zu zeigen, daß derjenige Komponist, der
die Menge am meisten fesselt, damit eine "Wirkung ohne Ursache" hervorgebracht


von denen des Drama's sein müssen; daß es eine ganz andere Handlung, eine
ganz andere Charakterzeichnung, eine ganz andere Ausmalung der Situationen
und Empfindungen verlangt. Man sollte meinen, daß zur Feststellung dieses
Verhältnisses Niemand größern Beruf habe, als Richard Wagner, der sich so-
wol in der Komposition, wie in der Dichtung versucht hat, der ein ernstes, ge-
wissenhaftes Streben sür die Kunst mitbringt, und bei dem wenigstens im Ganzen
genommen die Reflexion die Unmittelbarkeit überwiegt. Wenn das Letztere zwar
nicht als ein unübersteigliches Hinderniß, aber doch gewiß als kein günstiges
Moment für seine künstlerische Thätigkeit betrachtet werden kann, so scheint es ihn
um so mehr zu einer Feststellung der Principien zu befähigen und ihn aufzufordern,
für die Musik etwas Aehnliches zu werden, was Lessing für die Poesie geworden ist.

ES ist auch nicht zu läugnen, daß sich in dem vorliegenden Buch, namentlich
wo sich Wagner auf ein ganz bestimmtes Thema beschränkt, einzelne vortreff¬
liche Winke zu finden sind; aber als Ganzes aufgefaßt, hinterläßt es eiuen sehr
unbefriedigender Eindruck, und erregt fast den Verdacht, der Verfasser habe nicht
gründlich und gewissenhaft seinen Gegenstand prüfen, sondern nur durch unge¬
wöhnliche Behauptungen seinen Geist leuchten lassen wollen. Der Grund liegt
darin, daß er nicht von einem hingebenden Studium des Einzelnen ausgeht, son¬
dern sich das Gerüst seiner Theorien vorher aufbaut und daun an dasselbe anknüpft,
was ihm gerade paßt, ohne zu fragen, ob es dadurch auch seiue richtige Stellung
erhält. Daraus geht eine unerhörte Einseitigkeit hervor, nicht jene Einseitigkeit,
die auf Unkenntniß beruht, sondern jene schlimmere, die im Rausch der sophisti¬
schen Deduction gewaltsam die Angen gegen das Wirkliche verschließt. Natür¬
lich führt das zu Widersprüche«, >vou denen ich hier uur ein Beispiel hervor¬
heben will. Er erklärt von Meyerbeer, daß sein musikalisches Talent nicht nur
im Verhältniß zum absoluten Maßstab, sondern auch im Verhältniß zu den meisten
lebenden Componisten (die er ebeu vorher der totalsten Impotenz bezüchtigt hat)
völlig gleich Null ist, und dann giebt er wieder zu, daß sich einzelne Stellen bei
ihm vorfinden, die ihm ganz eigen angehören, und deuen sich an musikalischen
Werth uur die Leistungen der größten Meister an die Seite stellen lassen. Das
ist doch wol ein handgreiflicl)er Widerspruch, denn aus Nichts wird Nichts, und
wo wirklich kein Talent vorhanden ist, einer Empfindung den musikalischen Aus¬
druck zu verleihen, da ist es auch nicht möglich, irgend eine einzelne Stelle zu Staude
zu bringen. Der Widerspruch geht aber keineswegs aus irgeud einer individuellen
Nebenabsicht hervor, sondern- er ist ans dem Uebermaß theoretischer Verallgemei¬
nerung zu erklären. Zuerst kommt es dem Kritiker nämlich darauf an, die Verrücktheit,
zu der die gegenwärtige Oper nach seiner Ansicht nicht durch zufällige Verirrun-
gen, souderu durch die nothwendige Entwickelung ihres Wesens gekommen ist, an
einem Beispiel schlagend nachzuweisen, zu zeigen, daß derjenige Komponist, der
die Menge am meisten fesselt, damit eine „Wirkung ohne Ursache" hervorgebracht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/92>, abgerufen am 22.07.2024.