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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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derbsten Dichter gegen einzelne, ziemlich willkürliche Regeln der ästhetischen Con-
venienz gesündigt haben, so siel es ihnen doch nicht ein, sich von der herrschenden
Tendenz des französischen Geistes überhaupt loszusagen; sie bekannten das Gesetz,
anch wo sie dagegen verstießen. Seitdem aber in den letzten Jahren der Restau¬
ration die Kunst sich in zwei feindliche Heerlager sonderte, von denen das eine
rücksichtslos gegen alle Traditionen ankämpfte, konnte sich auch die Akademie auf
die Dauer dem Einfluß des allgemeinen Dranges nicht entziehen. Zwar sträubte
sie sich noch einige Zeit, nachdem schon lange das Th^nere frau^ais seine geweihten
Hallen der Romantik geöffnet hatte, aber mit der Aufnahme Victor Hugo's (1841)
gab sie ihre Sache verloren. Und doch war diese Aufnahme im Grunde noch nicht
so merkwürdig, als die Alfred de Musset's. Victor Hugo war ein großer Manu
geworden, der im Begriff war, sich zur Ruhe zu setzen. Er gab die Poesie ans,
und ließ Staatsgespräche von seinen Lippen schallen, wie er denn auch zu seiner
Antrittsrede eiuen politischen Gegenstand wählte. Alfred de Musset dagegen steht
in der Mitte seines poetischen Schaffens, und durch seine Aufnahme acceptirt man
gewissermaßen die Methode dieses Schaffens.

Wir haben diese Methode an dem Dichter selbst vor einiger Zeit charakte-
ristrt. Er steht mit derselben nicht mehr allein, es hat sich vielmehr eine ganze
Schule in seiner Richtung fortgebildet, von deren talentvollsten Dichter, Henri
Murger, wir bereits einige Notizen mitgetheilt haben. An ihn knüpfen wir die
Betrachtungen, die das neue Genre der französischen Literatur hervorruft.

Mail kounte in der frühern Zeit die gelesensten französischen Nomanschrift-
steller in zwei Klassen sondern; die einen, die sogenannten Fantaiflsten, schilderten
mit gefälliger Unbefangenheit das unsittliche Treiben der Hauptstadt, ohne irgend
ein Bedenken, als Etwas, das sich von selbst verstände; die anderen gingen
in der Schilderung des Lasters mit nicht weniger Eifer und Sachkenntnis; zu
Werke, aber sie schlugen dabei fortwährend die Hände über dem Kopf zusammen.
Je verführerischer sie die Sinnlichkeit ausmalten, desto fester stand ihre Absicht,
dem Publicum einen moralischen Schauder vor der Sinnlichkeit einzuflößen. Bei
zwei sehr populairen Büchern, die kurze Zeit vor der französischen Revolution
erschienen, dem ?o,ub1o,8 und den Liaisons et-rng-sreuses, kann man diesen Unter¬
schied bereits verfolgen. Louvet schildert das lasterhafte Leben seines Helden mit
großem Behagen, und wenn zum Schluß auch ein unglücklicher Ausgang eintritt,
so war derselbe keineswegs mit Nothwendigkeit bedingt. Laclos dagegen, der
Verfasser der ^iaisong clcmssereuses, macht von vorn herein auf das Unmoralische
seiner Geschichten. aufmerksam. Er ist zwar in der Erfindung scheußlicher Züge
noch raffinirter, als der Dichter des Faublas, aber er hat dabei immer Etwas
von der Moralität Richardson's; er will vor dem Bösen warnen. Von den neueren
Romanschriftstellern repräsentiren Eugen Sue und Alexander Dumas am voll¬
ständigsten diese beiden Gattungen. Wenn Dumas einen Ehebruch, Mord


33*

derbsten Dichter gegen einzelne, ziemlich willkürliche Regeln der ästhetischen Con-
venienz gesündigt haben, so siel es ihnen doch nicht ein, sich von der herrschenden
Tendenz des französischen Geistes überhaupt loszusagen; sie bekannten das Gesetz,
anch wo sie dagegen verstießen. Seitdem aber in den letzten Jahren der Restau¬
ration die Kunst sich in zwei feindliche Heerlager sonderte, von denen das eine
rücksichtslos gegen alle Traditionen ankämpfte, konnte sich auch die Akademie auf
die Dauer dem Einfluß des allgemeinen Dranges nicht entziehen. Zwar sträubte
sie sich noch einige Zeit, nachdem schon lange das Th^nere frau^ais seine geweihten
Hallen der Romantik geöffnet hatte, aber mit der Aufnahme Victor Hugo's (1841)
gab sie ihre Sache verloren. Und doch war diese Aufnahme im Grunde noch nicht
so merkwürdig, als die Alfred de Musset's. Victor Hugo war ein großer Manu
geworden, der im Begriff war, sich zur Ruhe zu setzen. Er gab die Poesie ans,
und ließ Staatsgespräche von seinen Lippen schallen, wie er denn auch zu seiner
Antrittsrede eiuen politischen Gegenstand wählte. Alfred de Musset dagegen steht
in der Mitte seines poetischen Schaffens, und durch seine Aufnahme acceptirt man
gewissermaßen die Methode dieses Schaffens.

Wir haben diese Methode an dem Dichter selbst vor einiger Zeit charakte-
ristrt. Er steht mit derselben nicht mehr allein, es hat sich vielmehr eine ganze
Schule in seiner Richtung fortgebildet, von deren talentvollsten Dichter, Henri
Murger, wir bereits einige Notizen mitgetheilt haben. An ihn knüpfen wir die
Betrachtungen, die das neue Genre der französischen Literatur hervorruft.

Mail kounte in der frühern Zeit die gelesensten französischen Nomanschrift-
steller in zwei Klassen sondern; die einen, die sogenannten Fantaiflsten, schilderten
mit gefälliger Unbefangenheit das unsittliche Treiben der Hauptstadt, ohne irgend
ein Bedenken, als Etwas, das sich von selbst verstände; die anderen gingen
in der Schilderung des Lasters mit nicht weniger Eifer und Sachkenntnis; zu
Werke, aber sie schlugen dabei fortwährend die Hände über dem Kopf zusammen.
Je verführerischer sie die Sinnlichkeit ausmalten, desto fester stand ihre Absicht,
dem Publicum einen moralischen Schauder vor der Sinnlichkeit einzuflößen. Bei
zwei sehr populairen Büchern, die kurze Zeit vor der französischen Revolution
erschienen, dem ?o,ub1o,8 und den Liaisons et-rng-sreuses, kann man diesen Unter¬
schied bereits verfolgen. Louvet schildert das lasterhafte Leben seines Helden mit
großem Behagen, und wenn zum Schluß auch ein unglücklicher Ausgang eintritt,
so war derselbe keineswegs mit Nothwendigkeit bedingt. Laclos dagegen, der
Verfasser der ^iaisong clcmssereuses, macht von vorn herein auf das Unmoralische
seiner Geschichten. aufmerksam. Er ist zwar in der Erfindung scheußlicher Züge
noch raffinirter, als der Dichter des Faublas, aber er hat dabei immer Etwas
von der Moralität Richardson's; er will vor dem Bösen warnen. Von den neueren
Romanschriftstellern repräsentiren Eugen Sue und Alexander Dumas am voll¬
ständigsten diese beiden Gattungen. Wenn Dumas einen Ehebruch, Mord


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[0429] derbsten Dichter gegen einzelne, ziemlich willkürliche Regeln der ästhetischen Con- venienz gesündigt haben, so siel es ihnen doch nicht ein, sich von der herrschenden Tendenz des französischen Geistes überhaupt loszusagen; sie bekannten das Gesetz, anch wo sie dagegen verstießen. Seitdem aber in den letzten Jahren der Restau¬ ration die Kunst sich in zwei feindliche Heerlager sonderte, von denen das eine rücksichtslos gegen alle Traditionen ankämpfte, konnte sich auch die Akademie auf die Dauer dem Einfluß des allgemeinen Dranges nicht entziehen. Zwar sträubte sie sich noch einige Zeit, nachdem schon lange das Th^nere frau^ais seine geweihten Hallen der Romantik geöffnet hatte, aber mit der Aufnahme Victor Hugo's (1841) gab sie ihre Sache verloren. Und doch war diese Aufnahme im Grunde noch nicht so merkwürdig, als die Alfred de Musset's. Victor Hugo war ein großer Manu geworden, der im Begriff war, sich zur Ruhe zu setzen. Er gab die Poesie ans, und ließ Staatsgespräche von seinen Lippen schallen, wie er denn auch zu seiner Antrittsrede eiuen politischen Gegenstand wählte. Alfred de Musset dagegen steht in der Mitte seines poetischen Schaffens, und durch seine Aufnahme acceptirt man gewissermaßen die Methode dieses Schaffens. Wir haben diese Methode an dem Dichter selbst vor einiger Zeit charakte- ristrt. Er steht mit derselben nicht mehr allein, es hat sich vielmehr eine ganze Schule in seiner Richtung fortgebildet, von deren talentvollsten Dichter, Henri Murger, wir bereits einige Notizen mitgetheilt haben. An ihn knüpfen wir die Betrachtungen, die das neue Genre der französischen Literatur hervorruft. Mail kounte in der frühern Zeit die gelesensten französischen Nomanschrift- steller in zwei Klassen sondern; die einen, die sogenannten Fantaiflsten, schilderten mit gefälliger Unbefangenheit das unsittliche Treiben der Hauptstadt, ohne irgend ein Bedenken, als Etwas, das sich von selbst verstände; die anderen gingen in der Schilderung des Lasters mit nicht weniger Eifer und Sachkenntnis; zu Werke, aber sie schlugen dabei fortwährend die Hände über dem Kopf zusammen. Je verführerischer sie die Sinnlichkeit ausmalten, desto fester stand ihre Absicht, dem Publicum einen moralischen Schauder vor der Sinnlichkeit einzuflößen. Bei zwei sehr populairen Büchern, die kurze Zeit vor der französischen Revolution erschienen, dem ?o,ub1o,8 und den Liaisons et-rng-sreuses, kann man diesen Unter¬ schied bereits verfolgen. Louvet schildert das lasterhafte Leben seines Helden mit großem Behagen, und wenn zum Schluß auch ein unglücklicher Ausgang eintritt, so war derselbe keineswegs mit Nothwendigkeit bedingt. Laclos dagegen, der Verfasser der ^iaisong clcmssereuses, macht von vorn herein auf das Unmoralische seiner Geschichten. aufmerksam. Er ist zwar in der Erfindung scheußlicher Züge noch raffinirter, als der Dichter des Faublas, aber er hat dabei immer Etwas von der Moralität Richardson's; er will vor dem Bösen warnen. Von den neueren Romanschriftstellern repräsentiren Eugen Sue und Alexander Dumas am voll¬ ständigsten diese beiden Gattungen. Wenn Dumas einen Ehebruch, Mord 33*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/429>, abgerufen am 22.07.2024.