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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Bonaparte noch nicht von seinem Majordomus Persigny entthront und remplacirt
worden. Diese Gesellschaft ist wirklich krank und sie bedarf einer moralischen Durch-
rüttcluug, soll sie nicht ganz ihrem Verfalle entgegengehen. Interessant war für mich
der Eindruck, den dieses Schauspiel aus die weibliche Gesellschaft unsrer Loge machte.
Eine alte Französin, welche die beiden erwähnten Damen begleitete, fand Alles vkAimsnt,
Lpirituöl, eomique und tres-bien. Die Welt ist um einmal so, meinte sie, und die
Poeten, wie die Maler, müßten die Natur eopiren. Sie war blos in Angst, daß wir
Ausländer irgend eine Pointe überhören oder irgend eine Niedertracht nicht genug ver¬
stehen könnten. Die deutsche Dame blickte verdutzt drein, und dachte mit rühren¬
dem Heimweh an die tugendhaften Geschichten, die man in Deutschland als unsittlich
verschreit; die Engländerin aber verlangte empört und entschieden eine moralische Censur
der Theater. Es ist eigenthümlich, und ich habe diese Bemerkung oft genug machen
können, daß die Engländer, die bei sich zu Hause die vollkommenste Schreib-, Rede- und
Spielsreihcit(?) haben, auf dem Continente Anhänger der von Regierungs wegen gemä¬
ßigten Freiheit sind. Sie lassen die öffentliche Meinung und die Censur der all¬
gemeinen Sitten wol daheim gelten, aber im Auslande scheint ihnen das ungenügend.
Sie vergessen gern, daß die Mäßigung des Gebrauches der Freiheit bei ihnen eine
Folge der langen Bekanntschaft mit der unbeschränkten Freiheit geworden, und es fällt
ihnen gar nicht ein, daß eS auf dem Continente eben so kommen müßte, wenn nicht
die Regierungen ängstlich Sorge trügen, daß die Gemüther immer wieder den revolu-
tionairen Tendenzen zugeführt werden. In Frankreich ist dies der Regierung so gut
gelungen, daß hier an einen geregelten friedlichen Zustand ohne gewaltsame Erschütterung
lange nicht zu denken ist. Die Corruption ist eine zu tiefgehende, und die Autorität
der sittlichen Idee ist so sehr untergraben, daß der Erfolg des kön aeoomxli die ein¬
zige Religion bleibt, an die man glaubt. Montalembert, der Cicero des Jesuitis¬
mus, sagte lange vor dem Staatsstreiche, was ist, ist recht und gut, und jetzt sind
selbst die Legitimisten. die bisher wenigstens in ihren Reden von den Principien der
göttlichen Rechte sprachen, dem Status quo freundlicher geworden. Wenn nun Alle, die
Magistratur, die Universität, die Akademie, die staatsmännnischen Berühmtheiten, die
Journalisten, die dramatischen Schriftsteller, einstimmig denselben Ideen huldigen, und
nur das materielle Wohl, die Befriedigung des kleinsten Ehrgeizes vor Augen haben,
wenn wir in allen Kreisen activer oder passiver Servilität gegenüber der Macht des
Augenblicks begegnen, so muß das Uebel wirklich im Charakter, in den Sitten, oder viel¬
mehr im Mangel an Sitten liegen. Was bei Beurtheilung der französischen Zustände
am schmerzlichsten wird, ist der Umstand, daß die Leute, die sich heute um die Negie¬
rung herum am meisten zu schaffen machen, ihr im Herzen alle feindlich gesinnt sind,
und daß selbst die Armee, welche Louis Bonaparte zum Fußschemel zur Er¬
klimmung des Thrones dient, dem künftigen Imperator lange nicht so geneigt ist, als
man zu glauben versucht wäre. Wenn alle die feindlichen Elemente nur einen Tag lang
aufrichtig wären, die saubere Wirthschaft fiele über den Haufen wie ein Kartenhaus.
Je länger aber Louis Bonaparte sich zu halten im Stande ist, um so größer werden
die Opfer ausfallen müssen, die Frankreich zu seiner Befreiung zu bringen hat, und die
nächste Revolution wird ans's Neue vielen Tausenden das Leben kosten, ohne die letzte
zu sein. Louis Bonaparte weiß das, und er benimmt sich ganz wie ein Mann, der
auf's Aeußerste gefaßt ist. Er denkt an Befestigung der Tuilerien, und das Louvre


Bonaparte noch nicht von seinem Majordomus Persigny entthront und remplacirt
worden. Diese Gesellschaft ist wirklich krank und sie bedarf einer moralischen Durch-
rüttcluug, soll sie nicht ganz ihrem Verfalle entgegengehen. Interessant war für mich
der Eindruck, den dieses Schauspiel aus die weibliche Gesellschaft unsrer Loge machte.
Eine alte Französin, welche die beiden erwähnten Damen begleitete, fand Alles vkAimsnt,
Lpirituöl, eomique und tres-bien. Die Welt ist um einmal so, meinte sie, und die
Poeten, wie die Maler, müßten die Natur eopiren. Sie war blos in Angst, daß wir
Ausländer irgend eine Pointe überhören oder irgend eine Niedertracht nicht genug ver¬
stehen könnten. Die deutsche Dame blickte verdutzt drein, und dachte mit rühren¬
dem Heimweh an die tugendhaften Geschichten, die man in Deutschland als unsittlich
verschreit; die Engländerin aber verlangte empört und entschieden eine moralische Censur
der Theater. Es ist eigenthümlich, und ich habe diese Bemerkung oft genug machen
können, daß die Engländer, die bei sich zu Hause die vollkommenste Schreib-, Rede- und
Spielsreihcit(?) haben, auf dem Continente Anhänger der von Regierungs wegen gemä¬
ßigten Freiheit sind. Sie lassen die öffentliche Meinung und die Censur der all¬
gemeinen Sitten wol daheim gelten, aber im Auslande scheint ihnen das ungenügend.
Sie vergessen gern, daß die Mäßigung des Gebrauches der Freiheit bei ihnen eine
Folge der langen Bekanntschaft mit der unbeschränkten Freiheit geworden, und es fällt
ihnen gar nicht ein, daß eS auf dem Continente eben so kommen müßte, wenn nicht
die Regierungen ängstlich Sorge trügen, daß die Gemüther immer wieder den revolu-
tionairen Tendenzen zugeführt werden. In Frankreich ist dies der Regierung so gut
gelungen, daß hier an einen geregelten friedlichen Zustand ohne gewaltsame Erschütterung
lange nicht zu denken ist. Die Corruption ist eine zu tiefgehende, und die Autorität
der sittlichen Idee ist so sehr untergraben, daß der Erfolg des kön aeoomxli die ein¬
zige Religion bleibt, an die man glaubt. Montalembert, der Cicero des Jesuitis¬
mus, sagte lange vor dem Staatsstreiche, was ist, ist recht und gut, und jetzt sind
selbst die Legitimisten. die bisher wenigstens in ihren Reden von den Principien der
göttlichen Rechte sprachen, dem Status quo freundlicher geworden. Wenn nun Alle, die
Magistratur, die Universität, die Akademie, die staatsmännnischen Berühmtheiten, die
Journalisten, die dramatischen Schriftsteller, einstimmig denselben Ideen huldigen, und
nur das materielle Wohl, die Befriedigung des kleinsten Ehrgeizes vor Augen haben,
wenn wir in allen Kreisen activer oder passiver Servilität gegenüber der Macht des
Augenblicks begegnen, so muß das Uebel wirklich im Charakter, in den Sitten, oder viel¬
mehr im Mangel an Sitten liegen. Was bei Beurtheilung der französischen Zustände
am schmerzlichsten wird, ist der Umstand, daß die Leute, die sich heute um die Negie¬
rung herum am meisten zu schaffen machen, ihr im Herzen alle feindlich gesinnt sind,
und daß selbst die Armee, welche Louis Bonaparte zum Fußschemel zur Er¬
klimmung des Thrones dient, dem künftigen Imperator lange nicht so geneigt ist, als
man zu glauben versucht wäre. Wenn alle die feindlichen Elemente nur einen Tag lang
aufrichtig wären, die saubere Wirthschaft fiele über den Haufen wie ein Kartenhaus.
Je länger aber Louis Bonaparte sich zu halten im Stande ist, um so größer werden
die Opfer ausfallen müssen, die Frankreich zu seiner Befreiung zu bringen hat, und die
nächste Revolution wird ans's Neue vielen Tausenden das Leben kosten, ohne die letzte
zu sein. Louis Bonaparte weiß das, und er benimmt sich ganz wie ein Mann, der
auf's Aeußerste gefaßt ist. Er denkt an Befestigung der Tuilerien, und das Louvre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/404>, abgerufen am 04.12.2024.