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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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fanatischen Haß gegen die gegenwärtigen Zustände und ihre Veranlassungen
eben so und noch mehr von dem Fieber der Zeit ergriffen ist, als seine politischen
Gegner. Wir können nicht beurtheilen, in wieweit seine Angriffe gegen den localen
Radicalismus gerechtfertigt sind, es mögen anch dort arge Dinge vorgekommen
sein, wie bei uns zu den Zeiten der Demokratie; aber das können wir mit Be¬
stimmtheit behaupten, daß eine große politische Partei nicht aus lauter Böse-
wichtern und Halunken zusammengesetzt sein kann. Hält es Gotthelf M seine
Pflicht, den Radicalismus zu bekämpfen, so möge er es offen thun mit Dar¬
legung seiner Gründe und mit genauer Bezeichnung der Persönlichkeiten, die er
meint; aber Caricaturen von allgemeinem Inhalt zu schildern, und diese durch
unverkennbare Anspielungen ans bestimmte Personen zu beziehen, das grenzt hart
an das Gebiet der Verleumdung, und ist des Dichters wie des ehrlichen Poli¬
tikers unwürdig.

In einer frühern Schrift, "Leiden und Freuden eines Schulmeisters", hat
Gotthelf mit scharfen Verstand und redlicher, warmer Liebe die Verirrungen auf¬
gesucht, in die dieser Beruf bei seiner eigenthümlichen Stellung mir gar zu leicht
verfällt, und die allmähliche Durcharbeitung eines geistig schwachen, aber wohl¬
denkenden Individuums aus diesen Verirrungen zu einem klaren und sichern Selbst¬
bewußtsein verfolgt. In dem neuesten Roman wird der gesammte Stand der
Schulmeister als eine Horde von Tollen und Bösewichtern dargestellt. Das ist
ein sehr schlimmer Fortschritt, in der Einsicht wie in der Gesinnung. Nicht un¬
gestraft verschließt man sich den rechtmäßigen Einflüssen der Zeit. Allerdings
hat der idyllische Naturzustand eines von allen fremden Einflüssen abgeschlossenen
Cantons etwas Anziehendes, so wie in seiner Art das Jägerleben der Mohicaner,
aber wenn eine allgemeine Bewegung der Cultur sich erhebt, ihn dadurch erhalten
zu wollen, daß man ihn unter die Glasglocke stellt, ist eben so eitel wie vermessen.
Auch der entlegenste Fleck der Erde kann sich bei unsren hochgesteigerten Communi-
cationsmitteln den Einflüssen der allgemeinen Cultur nicht entziehen, und die
wahrhaft conservative Gesinnung besteht nicht darin, dieselben zurück zu weisen,
sondern sie auf eine verständige Weise mit dem Bestehenden zu vermitteln.

Wir haben diese Fehler bis jetzt nur vom Standpunkt des Verstandes betrachtet.
Aber auch in ästhetischer Beziehung müssen wir dasselbe sagen. Der Fanatismus
verblendet nicht nur den Verstand, er verkehrt auch das Herz. Wenn den
Dichter überall das Gespenst des Radicalismus verfolgt, so ist er nicht mehr im
Stande, richtig zu empfinden, und damit verliert er anch die Fähigkeit, richtig zu
schildern.

Daß Gotthelf zuerst dnrch den Haß gegen die verdrehten Abstractionen der
neuen Lehre zum poetischen Schaffen getrieben wurde, ist an sich kein Unglück.
Man konnte hoffen, daß er durch die Frende an seinen eigenen Schöpfungen
allmählich ganz für die Kunst gewonnen, und durch die Poesie auch über die Vor-


fanatischen Haß gegen die gegenwärtigen Zustände und ihre Veranlassungen
eben so und noch mehr von dem Fieber der Zeit ergriffen ist, als seine politischen
Gegner. Wir können nicht beurtheilen, in wieweit seine Angriffe gegen den localen
Radicalismus gerechtfertigt sind, es mögen anch dort arge Dinge vorgekommen
sein, wie bei uns zu den Zeiten der Demokratie; aber das können wir mit Be¬
stimmtheit behaupten, daß eine große politische Partei nicht aus lauter Böse-
wichtern und Halunken zusammengesetzt sein kann. Hält es Gotthelf M seine
Pflicht, den Radicalismus zu bekämpfen, so möge er es offen thun mit Dar¬
legung seiner Gründe und mit genauer Bezeichnung der Persönlichkeiten, die er
meint; aber Caricaturen von allgemeinem Inhalt zu schildern, und diese durch
unverkennbare Anspielungen ans bestimmte Personen zu beziehen, das grenzt hart
an das Gebiet der Verleumdung, und ist des Dichters wie des ehrlichen Poli¬
tikers unwürdig.

In einer frühern Schrift, „Leiden und Freuden eines Schulmeisters", hat
Gotthelf mit scharfen Verstand und redlicher, warmer Liebe die Verirrungen auf¬
gesucht, in die dieser Beruf bei seiner eigenthümlichen Stellung mir gar zu leicht
verfällt, und die allmähliche Durcharbeitung eines geistig schwachen, aber wohl¬
denkenden Individuums aus diesen Verirrungen zu einem klaren und sichern Selbst¬
bewußtsein verfolgt. In dem neuesten Roman wird der gesammte Stand der
Schulmeister als eine Horde von Tollen und Bösewichtern dargestellt. Das ist
ein sehr schlimmer Fortschritt, in der Einsicht wie in der Gesinnung. Nicht un¬
gestraft verschließt man sich den rechtmäßigen Einflüssen der Zeit. Allerdings
hat der idyllische Naturzustand eines von allen fremden Einflüssen abgeschlossenen
Cantons etwas Anziehendes, so wie in seiner Art das Jägerleben der Mohicaner,
aber wenn eine allgemeine Bewegung der Cultur sich erhebt, ihn dadurch erhalten
zu wollen, daß man ihn unter die Glasglocke stellt, ist eben so eitel wie vermessen.
Auch der entlegenste Fleck der Erde kann sich bei unsren hochgesteigerten Communi-
cationsmitteln den Einflüssen der allgemeinen Cultur nicht entziehen, und die
wahrhaft conservative Gesinnung besteht nicht darin, dieselben zurück zu weisen,
sondern sie auf eine verständige Weise mit dem Bestehenden zu vermitteln.

Wir haben diese Fehler bis jetzt nur vom Standpunkt des Verstandes betrachtet.
Aber auch in ästhetischer Beziehung müssen wir dasselbe sagen. Der Fanatismus
verblendet nicht nur den Verstand, er verkehrt auch das Herz. Wenn den
Dichter überall das Gespenst des Radicalismus verfolgt, so ist er nicht mehr im
Stande, richtig zu empfinden, und damit verliert er anch die Fähigkeit, richtig zu
schildern.

Daß Gotthelf zuerst dnrch den Haß gegen die verdrehten Abstractionen der
neuen Lehre zum poetischen Schaffen getrieben wurde, ist an sich kein Unglück.
Man konnte hoffen, daß er durch die Frende an seinen eigenen Schöpfungen
allmählich ganz für die Kunst gewonnen, und durch die Poesie auch über die Vor-


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[0287] fanatischen Haß gegen die gegenwärtigen Zustände und ihre Veranlassungen eben so und noch mehr von dem Fieber der Zeit ergriffen ist, als seine politischen Gegner. Wir können nicht beurtheilen, in wieweit seine Angriffe gegen den localen Radicalismus gerechtfertigt sind, es mögen anch dort arge Dinge vorgekommen sein, wie bei uns zu den Zeiten der Demokratie; aber das können wir mit Be¬ stimmtheit behaupten, daß eine große politische Partei nicht aus lauter Böse- wichtern und Halunken zusammengesetzt sein kann. Hält es Gotthelf M seine Pflicht, den Radicalismus zu bekämpfen, so möge er es offen thun mit Dar¬ legung seiner Gründe und mit genauer Bezeichnung der Persönlichkeiten, die er meint; aber Caricaturen von allgemeinem Inhalt zu schildern, und diese durch unverkennbare Anspielungen ans bestimmte Personen zu beziehen, das grenzt hart an das Gebiet der Verleumdung, und ist des Dichters wie des ehrlichen Poli¬ tikers unwürdig. In einer frühern Schrift, „Leiden und Freuden eines Schulmeisters", hat Gotthelf mit scharfen Verstand und redlicher, warmer Liebe die Verirrungen auf¬ gesucht, in die dieser Beruf bei seiner eigenthümlichen Stellung mir gar zu leicht verfällt, und die allmähliche Durcharbeitung eines geistig schwachen, aber wohl¬ denkenden Individuums aus diesen Verirrungen zu einem klaren und sichern Selbst¬ bewußtsein verfolgt. In dem neuesten Roman wird der gesammte Stand der Schulmeister als eine Horde von Tollen und Bösewichtern dargestellt. Das ist ein sehr schlimmer Fortschritt, in der Einsicht wie in der Gesinnung. Nicht un¬ gestraft verschließt man sich den rechtmäßigen Einflüssen der Zeit. Allerdings hat der idyllische Naturzustand eines von allen fremden Einflüssen abgeschlossenen Cantons etwas Anziehendes, so wie in seiner Art das Jägerleben der Mohicaner, aber wenn eine allgemeine Bewegung der Cultur sich erhebt, ihn dadurch erhalten zu wollen, daß man ihn unter die Glasglocke stellt, ist eben so eitel wie vermessen. Auch der entlegenste Fleck der Erde kann sich bei unsren hochgesteigerten Communi- cationsmitteln den Einflüssen der allgemeinen Cultur nicht entziehen, und die wahrhaft conservative Gesinnung besteht nicht darin, dieselben zurück zu weisen, sondern sie auf eine verständige Weise mit dem Bestehenden zu vermitteln. Wir haben diese Fehler bis jetzt nur vom Standpunkt des Verstandes betrachtet. Aber auch in ästhetischer Beziehung müssen wir dasselbe sagen. Der Fanatismus verblendet nicht nur den Verstand, er verkehrt auch das Herz. Wenn den Dichter überall das Gespenst des Radicalismus verfolgt, so ist er nicht mehr im Stande, richtig zu empfinden, und damit verliert er anch die Fähigkeit, richtig zu schildern. Daß Gotthelf zuerst dnrch den Haß gegen die verdrehten Abstractionen der neuen Lehre zum poetischen Schaffen getrieben wurde, ist an sich kein Unglück. Man konnte hoffen, daß er durch die Frende an seinen eigenen Schöpfungen allmählich ganz für die Kunst gewonnen, und durch die Poesie auch über die Vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/287>, abgerufen am 22.07.2024.