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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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macht, in ihrer Wirkung auf seinen Idealismus klar und deutlich darzustellen,
sehr genau und auch dem flüchtigen Leser verständlich die Veränderungen anzu¬
geben, welche die Ueberzeugung des Helden im Laufe der Zeit erfährt, und vor
Allem zum Schlich uns genau und unzweifelhaft festzustellen, ob dieser Einfall
eines Schwärmers sich als ein verunglücktes Experiment bewiesen hat, oder als
eine große Ueberzeugung durchgesetzt wird. Davon aber ist uicht viel zu merken.
Sehr schon und wahr sind viele einzelne Conflicte deö Idealisten mit der Wirk¬
lichkeit erzählt, mit ungezogenen Kindern, mit bornirten Aeltern, mit der ganzen
spröden und egoistischen Wirklichkeit. Aber das Alles ist Einfall, Einzelheit,
Stückwerk geblieben. Eine consequente Verfolgung der Grundidee bis zum
Ende wird unmöglich, weil der Verfasser seinem Helden noch andere Richtungen,
Lebenszwecke und seltsame Zugaben zu seiner Persönlichkeit gegeben hat, welche
die Entwickelung dieser Grundidee fortwährend stören, und den Leser eben so
abziehen, als sie den Dichter selbst zerstreut habe". Zunächst der ganze Hinter¬
grund der Handlung, Baden und der Aufstand von 4 849. Wie war es möglich,
so nahe der Gegenwart einen solchen Kampf zwischen Ideal und Wirklichkeit vor¬
zuführen, zu. dessen Entscheidung der Natur der Sache nach wol ein halbes
Menschenalter nöthig war. lind wie unvortheilhaft ist es, die rauhe, nackte
Wirklichkeit in der Seele des Lesers mitten in die psychologische Darstellung
eines poetische" Idealisten wachsen zu lasse", jene Menge von peinlichen Empfin¬
dungen und Verhältnissen, welche den unglücklichen Kampf begleiteten, und an der
dargestellten Localität häugen.

Und der Held selbst, zuerst Betteljunge, dann Graf und Officier, in allen
Cavaliertugeuden wohl geübt, -- ist es wahrscheinlich, daß ein Maun von solchem
Bildungsgange ein so unbesonnener, philanthropischer Schwärmer werden könne?
Und dieser Graf ist eben aus dem Gefängniß entflohen, wird von den Gesetzen
desselben Landes, in welchem er sich in warmer Menschenliebe niederläßt, bis zum
Tode verfolgt. Ist es möglich, daß ein solcher Mann in derselben Zeit ruhig
in eine Schulmeisterstelle hereiusteigeu werde? Durch solche abenteuerliche Zu¬
thaten beeinträchtigt Auerbach die Grundidee seines Romans, denn er nimmt der
gesammten Handlung die Wahrscheinlichkeit, ja die logische Möglichkeit. Dieselben
Uebelstände drücken auch die Charakterzeichnung in den einzelnen Stellen. Der
Held Eugen ist ein edler Schwärmer, umarmt sich mit einem kleinen Schulmeister
auf der Landstraße, weil diesem ein richtiges Zartgefühl das Abreißen von Baum-
früchten am Wege verbietet, und scheut sich doch nicht, denselben Schulmeister in
derselbe" Stunde allen Gefahren auszusetzen, welche aus dem Besitz eines falschen
Passes hervorgehen. Der Schulmeister fragt ihn: "Wie kommst Du zu diesem
Reisepaß mit den vielen Visa's?" "Das darf ich Dir sagen, dieser Ablaßzettel
ist nicht älter, als zwei Tage. Wir haben hilfreiche Beamten und eigene Amts¬
siegel ans allen Provinzen Deutschlands, ja selbst an gesandtschaftlichen sehlt es


macht, in ihrer Wirkung auf seinen Idealismus klar und deutlich darzustellen,
sehr genau und auch dem flüchtigen Leser verständlich die Veränderungen anzu¬
geben, welche die Ueberzeugung des Helden im Laufe der Zeit erfährt, und vor
Allem zum Schlich uns genau und unzweifelhaft festzustellen, ob dieser Einfall
eines Schwärmers sich als ein verunglücktes Experiment bewiesen hat, oder als
eine große Ueberzeugung durchgesetzt wird. Davon aber ist uicht viel zu merken.
Sehr schon und wahr sind viele einzelne Conflicte deö Idealisten mit der Wirk¬
lichkeit erzählt, mit ungezogenen Kindern, mit bornirten Aeltern, mit der ganzen
spröden und egoistischen Wirklichkeit. Aber das Alles ist Einfall, Einzelheit,
Stückwerk geblieben. Eine consequente Verfolgung der Grundidee bis zum
Ende wird unmöglich, weil der Verfasser seinem Helden noch andere Richtungen,
Lebenszwecke und seltsame Zugaben zu seiner Persönlichkeit gegeben hat, welche
die Entwickelung dieser Grundidee fortwährend stören, und den Leser eben so
abziehen, als sie den Dichter selbst zerstreut habe». Zunächst der ganze Hinter¬
grund der Handlung, Baden und der Aufstand von 4 849. Wie war es möglich,
so nahe der Gegenwart einen solchen Kampf zwischen Ideal und Wirklichkeit vor¬
zuführen, zu. dessen Entscheidung der Natur der Sache nach wol ein halbes
Menschenalter nöthig war. lind wie unvortheilhaft ist es, die rauhe, nackte
Wirklichkeit in der Seele des Lesers mitten in die psychologische Darstellung
eines poetische» Idealisten wachsen zu lasse«, jene Menge von peinlichen Empfin¬
dungen und Verhältnissen, welche den unglücklichen Kampf begleiteten, und an der
dargestellten Localität häugen.

Und der Held selbst, zuerst Betteljunge, dann Graf und Officier, in allen
Cavaliertugeuden wohl geübt, — ist es wahrscheinlich, daß ein Maun von solchem
Bildungsgange ein so unbesonnener, philanthropischer Schwärmer werden könne?
Und dieser Graf ist eben aus dem Gefängniß entflohen, wird von den Gesetzen
desselben Landes, in welchem er sich in warmer Menschenliebe niederläßt, bis zum
Tode verfolgt. Ist es möglich, daß ein solcher Mann in derselben Zeit ruhig
in eine Schulmeisterstelle hereiusteigeu werde? Durch solche abenteuerliche Zu¬
thaten beeinträchtigt Auerbach die Grundidee seines Romans, denn er nimmt der
gesammten Handlung die Wahrscheinlichkeit, ja die logische Möglichkeit. Dieselben
Uebelstände drücken auch die Charakterzeichnung in den einzelnen Stellen. Der
Held Eugen ist ein edler Schwärmer, umarmt sich mit einem kleinen Schulmeister
auf der Landstraße, weil diesem ein richtiges Zartgefühl das Abreißen von Baum-
früchten am Wege verbietet, und scheut sich doch nicht, denselben Schulmeister in
derselbe» Stunde allen Gefahren auszusetzen, welche aus dem Besitz eines falschen
Passes hervorgehen. Der Schulmeister fragt ihn: „Wie kommst Du zu diesem
Reisepaß mit den vielen Visa's?" „Das darf ich Dir sagen, dieser Ablaßzettel
ist nicht älter, als zwei Tage. Wir haben hilfreiche Beamten und eigene Amts¬
siegel ans allen Provinzen Deutschlands, ja selbst an gesandtschaftlichen sehlt es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/108>, abgerufen am 25.06.2024.