Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sprechen soll, daß der Staat unter dem Vorwande, die öffentliche Ordnung her¬
zustellen, alles natürliche Gefühl unterdrückt, und auch die bestgesiunten Menschen
zur Niederträchtigkeit treibt.' Zuerst verwandelt er das natürliche Gefühl in sitt¬
liche Abstractionen, und bringt dadurch deu Menschen in unsinnige Conflicte mit
sich selbst, z. B. deu Oedipus und die Jokaste, die eine von der Natur legitimirte
und mit vier Kindern gesegnete Ehe schlössen, und später nnr durch das Gespenst
der sittlichen Abstraction in ihrem Gefühle verwirrt wurden u. f. w., bis endlich
der nackte, ideenlose, ans die gemeinste Staatsraison sich stützende Despotismus
des Kreon übrig blieb. Dieser Mythus spricht nicht nur den Charakter eines
bestimmten Staats, sondern des Staats überhaupt aus. Der Staat entmenscht
seine Bürger; er setzt sie zu zufälligen Producten zeitlicher Vorurtheile herab n.
s. w., und er stellt sich dann zuletzt in seiner vollständigen Unwürdigkeit und Unfähig¬
keit zur Poesie dar, wenn er aus deu Händen der Fürsten und des Adels, die
doch wenigstens zufällig für das Gute und Schone Sinn haben können, in die
Hände der Bourgeoisie übergeht, die, ihrem Wesen nach niederträchtig, jede Kunst
unmöglich macht. Das ist jetzt der Fall. Die Banquiers bilden uicht blos das
Publicum, sondern sie vertreten auch die Kunst. Karl Beer sitzt im Proscenium,
Michel Beer schreibt Dramen, und Meyerbeer zieht als musikalischer c"mal"-
vo^aKeur durch alle Welttheile.

Man wird nicht erwarten, daß wir hier auf diese politischen Phantasien ein¬
gehen; sie beruhen sämmtlich auf eiuer so handgreiflichen Abstraction, daß die
ganze sophistische Verwirrung unsrer Zeit dazu gehört, um sie einen Augenblick
zu übersehen, nämlich ans der Voraussetzung einer geschichtloseu Humanität, einer
individuellen Freiheit ohne sittliche Schranken und eiuer Gesellschaft ohne staat¬
liche Formen. Wir lassen daher anch die Zeit, in der allein das neue Kunst¬
werk möglich sein wird, die Zeit, wo es keine Politik und keine Staaten giebt,
bei Seite, und gehen sofort auf den Inhalt dieses Kunstwerkes über.

Wagner findet den eigentlichen Stoff des Drama's im Mythus, und
die wahre Form der Katastrophe im W und er. Unter dem letztern versteht er
aber nicht das snpranatnralistische Wunder des Christenthums, sondern Folgendes:
,,Jn seiner vielhandligen Zerstreutheit über Raum und Zeit vermag der Mensch
seine eigene Lebensthätigkeit nicht zu verstehen; das für das Verständniß zusam¬
mengedrängte Bild dieser Thätigkeit gelaugt ihm aber M der vom Dichter geschaf¬
fenen Gestalt zur Anschauung, in welchem diese Thätigkeit zu einem verstärktesten
Momente verdichtet ist, der an sich allerdings ungewöhnlich und wunderhast er¬
scheint, seine Ungewöhulichkeit und Wnnderhaftigkeit aber in sich verschließt, und
vom Beschauer keineswegs als Wunder aufgefaßt, sondern als verständlichste
Darstellung der Wirklichkeit begriffen wird." Trotz der Superlative ist diese
Darstellung uicht ganz klar, und wenn er an einem andern Orte sagt: "der
Dichter will einen großen Zusammenhang natürlicher Erscheinungen in einem schnell


12*

sprechen soll, daß der Staat unter dem Vorwande, die öffentliche Ordnung her¬
zustellen, alles natürliche Gefühl unterdrückt, und auch die bestgesiunten Menschen
zur Niederträchtigkeit treibt.' Zuerst verwandelt er das natürliche Gefühl in sitt¬
liche Abstractionen, und bringt dadurch deu Menschen in unsinnige Conflicte mit
sich selbst, z. B. deu Oedipus und die Jokaste, die eine von der Natur legitimirte
und mit vier Kindern gesegnete Ehe schlössen, und später nnr durch das Gespenst
der sittlichen Abstraction in ihrem Gefühle verwirrt wurden u. f. w., bis endlich
der nackte, ideenlose, ans die gemeinste Staatsraison sich stützende Despotismus
des Kreon übrig blieb. Dieser Mythus spricht nicht nur den Charakter eines
bestimmten Staats, sondern des Staats überhaupt aus. Der Staat entmenscht
seine Bürger; er setzt sie zu zufälligen Producten zeitlicher Vorurtheile herab n.
s. w., und er stellt sich dann zuletzt in seiner vollständigen Unwürdigkeit und Unfähig¬
keit zur Poesie dar, wenn er aus deu Händen der Fürsten und des Adels, die
doch wenigstens zufällig für das Gute und Schone Sinn haben können, in die
Hände der Bourgeoisie übergeht, die, ihrem Wesen nach niederträchtig, jede Kunst
unmöglich macht. Das ist jetzt der Fall. Die Banquiers bilden uicht blos das
Publicum, sondern sie vertreten auch die Kunst. Karl Beer sitzt im Proscenium,
Michel Beer schreibt Dramen, und Meyerbeer zieht als musikalischer c»mal«-
vo^aKeur durch alle Welttheile.

Man wird nicht erwarten, daß wir hier auf diese politischen Phantasien ein¬
gehen; sie beruhen sämmtlich auf eiuer so handgreiflichen Abstraction, daß die
ganze sophistische Verwirrung unsrer Zeit dazu gehört, um sie einen Augenblick
zu übersehen, nämlich ans der Voraussetzung einer geschichtloseu Humanität, einer
individuellen Freiheit ohne sittliche Schranken und eiuer Gesellschaft ohne staat¬
liche Formen. Wir lassen daher anch die Zeit, in der allein das neue Kunst¬
werk möglich sein wird, die Zeit, wo es keine Politik und keine Staaten giebt,
bei Seite, und gehen sofort auf den Inhalt dieses Kunstwerkes über.

Wagner findet den eigentlichen Stoff des Drama's im Mythus, und
die wahre Form der Katastrophe im W und er. Unter dem letztern versteht er
aber nicht das snpranatnralistische Wunder des Christenthums, sondern Folgendes:
,,Jn seiner vielhandligen Zerstreutheit über Raum und Zeit vermag der Mensch
seine eigene Lebensthätigkeit nicht zu verstehen; das für das Verständniß zusam¬
mengedrängte Bild dieser Thätigkeit gelaugt ihm aber M der vom Dichter geschaf¬
fenen Gestalt zur Anschauung, in welchem diese Thätigkeit zu einem verstärktesten
Momente verdichtet ist, der an sich allerdings ungewöhnlich und wunderhast er¬
scheint, seine Ungewöhulichkeit und Wnnderhaftigkeit aber in sich verschließt, und
vom Beschauer keineswegs als Wunder aufgefaßt, sondern als verständlichste
Darstellung der Wirklichkeit begriffen wird." Trotz der Superlative ist diese
Darstellung uicht ganz klar, und wenn er an einem andern Orte sagt: „der
Dichter will einen großen Zusammenhang natürlicher Erscheinungen in einem schnell


12*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0101" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93466"/>
          <p xml:id="ID_303" prev="#ID_302"> sprechen soll, daß der Staat unter dem Vorwande, die öffentliche Ordnung her¬<lb/>
zustellen, alles natürliche Gefühl unterdrückt, und auch die bestgesiunten Menschen<lb/>
zur Niederträchtigkeit treibt.' Zuerst verwandelt er das natürliche Gefühl in sitt¬<lb/>
liche Abstractionen, und bringt dadurch deu Menschen in unsinnige Conflicte mit<lb/>
sich selbst, z. B. deu Oedipus und die Jokaste, die eine von der Natur legitimirte<lb/>
und mit vier Kindern gesegnete Ehe schlössen, und später nnr durch das Gespenst<lb/>
der sittlichen Abstraction in ihrem Gefühle verwirrt wurden u. f. w., bis endlich<lb/>
der nackte, ideenlose, ans die gemeinste Staatsraison sich stützende Despotismus<lb/>
des Kreon übrig blieb. Dieser Mythus spricht nicht nur den Charakter eines<lb/>
bestimmten Staats, sondern des Staats überhaupt aus. Der Staat entmenscht<lb/>
seine Bürger; er setzt sie zu zufälligen Producten zeitlicher Vorurtheile herab n.<lb/>
s. w., und er stellt sich dann zuletzt in seiner vollständigen Unwürdigkeit und Unfähig¬<lb/>
keit zur Poesie dar, wenn er aus deu Händen der Fürsten und des Adels, die<lb/>
doch wenigstens zufällig für das Gute und Schone Sinn haben können, in die<lb/>
Hände der Bourgeoisie übergeht, die, ihrem Wesen nach niederträchtig, jede Kunst<lb/>
unmöglich macht. Das ist jetzt der Fall. Die Banquiers bilden uicht blos das<lb/>
Publicum, sondern sie vertreten auch die Kunst. Karl Beer sitzt im Proscenium,<lb/>
Michel Beer schreibt Dramen, und Meyerbeer zieht als musikalischer c»mal«-<lb/>
vo^aKeur durch alle Welttheile.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_304"> Man wird nicht erwarten, daß wir hier auf diese politischen Phantasien ein¬<lb/>
gehen; sie beruhen sämmtlich auf eiuer so handgreiflichen Abstraction, daß die<lb/>
ganze sophistische Verwirrung unsrer Zeit dazu gehört, um sie einen Augenblick<lb/>
zu übersehen, nämlich ans der Voraussetzung einer geschichtloseu Humanität, einer<lb/>
individuellen Freiheit ohne sittliche Schranken und eiuer Gesellschaft ohne staat¬<lb/>
liche Formen. Wir lassen daher anch die Zeit, in der allein das neue Kunst¬<lb/>
werk möglich sein wird, die Zeit, wo es keine Politik und keine Staaten giebt,<lb/>
bei Seite, und gehen sofort auf den Inhalt dieses Kunstwerkes über.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_305" next="#ID_306"> Wagner findet den eigentlichen Stoff des Drama's im Mythus, und<lb/>
die wahre Form der Katastrophe im W und er. Unter dem letztern versteht er<lb/>
aber nicht das snpranatnralistische Wunder des Christenthums, sondern Folgendes:<lb/>
,,Jn seiner vielhandligen Zerstreutheit über Raum und Zeit vermag der Mensch<lb/>
seine eigene Lebensthätigkeit nicht zu verstehen; das für das Verständniß zusam¬<lb/>
mengedrängte Bild dieser Thätigkeit gelaugt ihm aber M der vom Dichter geschaf¬<lb/>
fenen Gestalt zur Anschauung, in welchem diese Thätigkeit zu einem verstärktesten<lb/>
Momente verdichtet ist, der an sich allerdings ungewöhnlich und wunderhast er¬<lb/>
scheint, seine Ungewöhulichkeit und Wnnderhaftigkeit aber in sich verschließt, und<lb/>
vom Beschauer keineswegs als Wunder aufgefaßt, sondern als verständlichste<lb/>
Darstellung der Wirklichkeit begriffen wird." Trotz der Superlative ist diese<lb/>
Darstellung uicht ganz klar, und wenn er an einem andern Orte sagt: &#x201E;der<lb/>
Dichter will einen großen Zusammenhang natürlicher Erscheinungen in einem schnell</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 12*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0101] sprechen soll, daß der Staat unter dem Vorwande, die öffentliche Ordnung her¬ zustellen, alles natürliche Gefühl unterdrückt, und auch die bestgesiunten Menschen zur Niederträchtigkeit treibt.' Zuerst verwandelt er das natürliche Gefühl in sitt¬ liche Abstractionen, und bringt dadurch deu Menschen in unsinnige Conflicte mit sich selbst, z. B. deu Oedipus und die Jokaste, die eine von der Natur legitimirte und mit vier Kindern gesegnete Ehe schlössen, und später nnr durch das Gespenst der sittlichen Abstraction in ihrem Gefühle verwirrt wurden u. f. w., bis endlich der nackte, ideenlose, ans die gemeinste Staatsraison sich stützende Despotismus des Kreon übrig blieb. Dieser Mythus spricht nicht nur den Charakter eines bestimmten Staats, sondern des Staats überhaupt aus. Der Staat entmenscht seine Bürger; er setzt sie zu zufälligen Producten zeitlicher Vorurtheile herab n. s. w., und er stellt sich dann zuletzt in seiner vollständigen Unwürdigkeit und Unfähig¬ keit zur Poesie dar, wenn er aus deu Händen der Fürsten und des Adels, die doch wenigstens zufällig für das Gute und Schone Sinn haben können, in die Hände der Bourgeoisie übergeht, die, ihrem Wesen nach niederträchtig, jede Kunst unmöglich macht. Das ist jetzt der Fall. Die Banquiers bilden uicht blos das Publicum, sondern sie vertreten auch die Kunst. Karl Beer sitzt im Proscenium, Michel Beer schreibt Dramen, und Meyerbeer zieht als musikalischer c»mal«- vo^aKeur durch alle Welttheile. Man wird nicht erwarten, daß wir hier auf diese politischen Phantasien ein¬ gehen; sie beruhen sämmtlich auf eiuer so handgreiflichen Abstraction, daß die ganze sophistische Verwirrung unsrer Zeit dazu gehört, um sie einen Augenblick zu übersehen, nämlich ans der Voraussetzung einer geschichtloseu Humanität, einer individuellen Freiheit ohne sittliche Schranken und eiuer Gesellschaft ohne staat¬ liche Formen. Wir lassen daher anch die Zeit, in der allein das neue Kunst¬ werk möglich sein wird, die Zeit, wo es keine Politik und keine Staaten giebt, bei Seite, und gehen sofort auf den Inhalt dieses Kunstwerkes über. Wagner findet den eigentlichen Stoff des Drama's im Mythus, und die wahre Form der Katastrophe im W und er. Unter dem letztern versteht er aber nicht das snpranatnralistische Wunder des Christenthums, sondern Folgendes: ,,Jn seiner vielhandligen Zerstreutheit über Raum und Zeit vermag der Mensch seine eigene Lebensthätigkeit nicht zu verstehen; das für das Verständniß zusam¬ mengedrängte Bild dieser Thätigkeit gelaugt ihm aber M der vom Dichter geschaf¬ fenen Gestalt zur Anschauung, in welchem diese Thätigkeit zu einem verstärktesten Momente verdichtet ist, der an sich allerdings ungewöhnlich und wunderhast er¬ scheint, seine Ungewöhulichkeit und Wnnderhaftigkeit aber in sich verschließt, und vom Beschauer keineswegs als Wunder aufgefaßt, sondern als verständlichste Darstellung der Wirklichkeit begriffen wird." Trotz der Superlative ist diese Darstellung uicht ganz klar, und wenn er an einem andern Orte sagt: „der Dichter will einen großen Zusammenhang natürlicher Erscheinungen in einem schnell 12*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/101
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/101>, abgerufen am 22.07.2024.