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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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man noch die Behausung jeues großen Rabbi und die Dachkammer, wo er lauge
Sommertage und Mitternächte in Einsamkeit mit dem Studium der Kabala ver¬
brachte. Hier ließ er sich von einem "Goten" bedienen, einem aus Lehm ge¬
formten Sklaven, den er mit Hilfe der weißen Magie belebte, damit kein weibge-
bornes, vom Hauch sinnlicher Leidenschaft beflecktes Wesen ihm zu nahen brauche.
So heilig war der Maun, daß sein Blick schon ans weiter Ferne die Unreinen
verwirrte; Lügner und Verleumder zwang ein Strahl seines Auges, ihre innersten
Gedanken laut auszusprechen und sich selber anzuklagen. Einst kam die fromme
Kaiserin Maria Theresia nach Prag und beschloß, die Juden aus ihren Landen
zu vertreiben. Mächtige Fürsprecher, hohe Beamte, selbst katholische Priester, mit
theueren Golde gewonnen, suchten vergebens das Herz der Fürstin zu erweichen.
Als "Hoch Reh Lob" dies hörte, schlug er deu chaldäischen Folianten zu, in welchem
er geforscht hatte, und machte sich auf den Weg zur Kaiserin. Er schritt über
die Brücke, und wie er die Kleiuseite betrat, sammelte sich viel neugieriges Chri¬
steuvolk um die hohe Gestalt des greise" Rabbi und von vielen Seiten erhob sich
höhnendes Geschrei. Lächelnd setzte er seinen Weg fort. Da kam der goldglänzende,
mit sechs Rossen bespannte, offene Wagen der Kaiserin in vollem Lauf deu Hradschin
herabgesprengt. Am Fuß der hügeligen Straße stellte sich ihm Hoch Reh Löb
entgegen und rief mit lauter Stimme und gehobener Rechten: Halt! Diese
Kühnheit reizte den Pöbel zum drohendsten Wuthgeschrei, Kiuder und Weiber
warfen den Rabbi mit Koth und Steinen. Doch die Steine fielen als Kirsch¬
blutheu, der Koth sank als ein Regen von Apfelblüthen auf sein gefurchtes Ant¬
litz, seinen Silberbart und seine breiten Schultern nieder; der Wagen aber hielt
mitten in seinem Lauf und auf der Mitte der Anhöhe plötzlich still; die sechs
Rosse sträubten ihre Mähnen, knirschten schäumend in die Zügel, warfen sich mit
wildem Hufschlag, die Köpfe vor Angst seitwärts uiederseukeud, halb zu Boden,
bäumten sich wieder auf und konnten doch keinen Schritt weiter. "Mächtige
Kaiserin!" rief/Hoch Reh Löb; "ich schwöre beim allmächtigen Gott, du wirst
deinen Sinn ändern, bevor die Sonne untergeht, und mein Volk wird in Frieden
wohnen bleiben, bis die Moldau den Hradschin hinauffließt!" Daun kehrte er
durch die lautlos gewordene Menge laugsam heim und forschte ruhig weiter in
dem chaldäischen Folianten; die Kaiserin aber zerriß noch in selbiger Stunde
den bereits unterzeichneten Befehl zur Ausweisung der Juden.

Ich trat ans den Friedhof. Der Wind trieb die Wellen des hohen unge-
mähten Grases, das die Grabsteine umwallt, und schüttelte die Aeste des Busch¬
werks und der Bäume, die in malerischen Gruppen den Gottesacker überschatten,
daß die Vögel mit ängstlichem Gezwitscher aufflogen. Viele der Grabsteine sind
Jahrhunderte alt, verwittert, bald nach Morgen, bald nach Abend geneigt und
bis über die Hälfte in's Erdreich versunken, Schnee und Negen haben die eckigen
hebräischen Buchstaben darauf verwischt; von manchen ragen gar nur die moosigen,


man noch die Behausung jeues großen Rabbi und die Dachkammer, wo er lauge
Sommertage und Mitternächte in Einsamkeit mit dem Studium der Kabala ver¬
brachte. Hier ließ er sich von einem „Goten" bedienen, einem aus Lehm ge¬
formten Sklaven, den er mit Hilfe der weißen Magie belebte, damit kein weibge-
bornes, vom Hauch sinnlicher Leidenschaft beflecktes Wesen ihm zu nahen brauche.
So heilig war der Maun, daß sein Blick schon ans weiter Ferne die Unreinen
verwirrte; Lügner und Verleumder zwang ein Strahl seines Auges, ihre innersten
Gedanken laut auszusprechen und sich selber anzuklagen. Einst kam die fromme
Kaiserin Maria Theresia nach Prag und beschloß, die Juden aus ihren Landen
zu vertreiben. Mächtige Fürsprecher, hohe Beamte, selbst katholische Priester, mit
theueren Golde gewonnen, suchten vergebens das Herz der Fürstin zu erweichen.
Als „Hoch Reh Lob" dies hörte, schlug er deu chaldäischen Folianten zu, in welchem
er geforscht hatte, und machte sich auf den Weg zur Kaiserin. Er schritt über
die Brücke, und wie er die Kleiuseite betrat, sammelte sich viel neugieriges Chri¬
steuvolk um die hohe Gestalt des greise» Rabbi und von vielen Seiten erhob sich
höhnendes Geschrei. Lächelnd setzte er seinen Weg fort. Da kam der goldglänzende,
mit sechs Rossen bespannte, offene Wagen der Kaiserin in vollem Lauf deu Hradschin
herabgesprengt. Am Fuß der hügeligen Straße stellte sich ihm Hoch Reh Löb
entgegen und rief mit lauter Stimme und gehobener Rechten: Halt! Diese
Kühnheit reizte den Pöbel zum drohendsten Wuthgeschrei, Kiuder und Weiber
warfen den Rabbi mit Koth und Steinen. Doch die Steine fielen als Kirsch¬
blutheu, der Koth sank als ein Regen von Apfelblüthen auf sein gefurchtes Ant¬
litz, seinen Silberbart und seine breiten Schultern nieder; der Wagen aber hielt
mitten in seinem Lauf und auf der Mitte der Anhöhe plötzlich still; die sechs
Rosse sträubten ihre Mähnen, knirschten schäumend in die Zügel, warfen sich mit
wildem Hufschlag, die Köpfe vor Angst seitwärts uiederseukeud, halb zu Boden,
bäumten sich wieder auf und konnten doch keinen Schritt weiter. „Mächtige
Kaiserin!" rief/Hoch Reh Löb; „ich schwöre beim allmächtigen Gott, du wirst
deinen Sinn ändern, bevor die Sonne untergeht, und mein Volk wird in Frieden
wohnen bleiben, bis die Moldau den Hradschin hinauffließt!" Daun kehrte er
durch die lautlos gewordene Menge laugsam heim und forschte ruhig weiter in
dem chaldäischen Folianten; die Kaiserin aber zerriß noch in selbiger Stunde
den bereits unterzeichneten Befehl zur Ausweisung der Juden.

Ich trat ans den Friedhof. Der Wind trieb die Wellen des hohen unge-
mähten Grases, das die Grabsteine umwallt, und schüttelte die Aeste des Busch¬
werks und der Bäume, die in malerischen Gruppen den Gottesacker überschatten,
daß die Vögel mit ängstlichem Gezwitscher aufflogen. Viele der Grabsteine sind
Jahrhunderte alt, verwittert, bald nach Morgen, bald nach Abend geneigt und
bis über die Hälfte in's Erdreich versunken, Schnee und Negen haben die eckigen
hebräischen Buchstaben darauf verwischt; von manchen ragen gar nur die moosigen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/73>, abgerufen am 24.07.2024.