Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Devorgoil und die Tragödie von Anchindrane 1830) ohne besondern Erfolg; zu¬
letzt aus einer reinen Geldspeculation das Leben Napoleons in neun Bän¬
den, 1827. Der Ertrag seiner Dichtungen hatte ihn in den Stand gesetzt, sich
1811 in der Nähe der Ruinen der Abtei Melrose, die er in seinem Lied des
letzten Minstrcl beschrieben hatte, ein Landgut zu kaufen, welches er Abbotsford
nannte und so romantisch als möglich ausstattete; 1820 wurde er zum Baronet
ernannt. Durch den Banquerout seines Buchhändlers wurde er 1827 veranlaßt,
sein Jncognito zu brechen und sich als Verfasser der Waverleynvvellen zu beten-
"en. Auf einer Reise nach Italien starb er im September 1832.

Mit dem historischen Roman hat Walter Scott der Poesie eine ganz neue
Bahn gegeben. In wieweit dieses Genre seine Berechtigung hat, läßt sich ans
allgemeinen Gründen nicht nachweisen; seine historische Berechtigung ergibt sich
aber augenblicklich, wenn man die frühere Art der Geschichtschreibung mit der
spätern vergleicht. Am Eude des achtzehnten Jahrhunderts herrschte in der Ge¬
schichtschreibung die schottische Schule. Von der Aufklärung des achtzehnten Jahr¬
hunderts ausgegangen, hatten Hume, Robertson und die Uebrigen sich vor allen
Dingen bemüht, diejenigen Frage", welche der politische Verstand als das Wesent¬
liche im Fortschritt der neuern Zeit begreift, an die Vorzeit zu legen und so klar
als möglich zu beantworten. Ihre Methode war der entschiedenste Nationalismus
mit allen Vorzügen und Schwächen dieser Richtung. Von einer colorirten Dar¬
stellung der Eigenthümlichkeiten einer bestimmten Zeit, der Irrationalitäten in den
großen historischen Charakteren war bei ihnen keine Rede. Ihre Helden traten
ohne Unterschied im Costüm und in der Redeweise des achtzehnten Jahrhunderts
aus. Daß in der neuesten Zeit die Geschichtschreiber den entgegengesetzten Weg
eingeschlagen haben, daß sie sich überall bemühen, jedes Zeitalter mit seinem eige¬
ne" Maß zu messen, jeden historischen Charakter als ein Kunstwerk für sich zu
betrachten, und die Lvcalfarbcu in lebendigen Schilderungen wiederzugeben, anstatt
sie im glatte", uur scheinbar erzählenden Raisonnement zu verflüchtigen, ist un¬
streitig eines der Hauptverdienste unsers Dichters. Zwar hat er sich mit seinen
Schilderungen im Ganzen auf einen ziemlich kleinen Raum der Weltgeschichte ein¬
geschränkt, aber wer sich daran gewöhnt hat, nur irgend eine Zeit mit hinge¬
bender Pietät zu zeichnen, findet sich bald in alle übrigen. Ich mache bei¬
läufig darauf aufmerksam, daß für Deutschland der Hegel'sehen Philosophie ein
ähnliches Verdienst zukommt, wenn diese auch scheinbar das ganz entgegengesetzte
Ziel verfolgte: wovon Walter Scott durch Beispiele die künstlerische Möglichkeit
bewies, das stellte sie in das Licht einer höhern philosophischen Bedeutung und
einer innern wissenschaftlichen Nothwendigkeit. -- Wenn Walter Scott in seinen
spätern historischen Versuchen verunglückte, so liegt der Grund theils darin, daß
die Geschichtschreibung noch andere Talente erfordert, als das der plastischen Kunst,
theils an der Gewohnheit einer leichtern Arbeit, welche man im Alter nicht leicht aufgibt.


Devorgoil und die Tragödie von Anchindrane 1830) ohne besondern Erfolg; zu¬
letzt aus einer reinen Geldspeculation das Leben Napoleons in neun Bän¬
den, 1827. Der Ertrag seiner Dichtungen hatte ihn in den Stand gesetzt, sich
1811 in der Nähe der Ruinen der Abtei Melrose, die er in seinem Lied des
letzten Minstrcl beschrieben hatte, ein Landgut zu kaufen, welches er Abbotsford
nannte und so romantisch als möglich ausstattete; 1820 wurde er zum Baronet
ernannt. Durch den Banquerout seines Buchhändlers wurde er 1827 veranlaßt,
sein Jncognito zu brechen und sich als Verfasser der Waverleynvvellen zu beten-
»en. Auf einer Reise nach Italien starb er im September 1832.

Mit dem historischen Roman hat Walter Scott der Poesie eine ganz neue
Bahn gegeben. In wieweit dieses Genre seine Berechtigung hat, läßt sich ans
allgemeinen Gründen nicht nachweisen; seine historische Berechtigung ergibt sich
aber augenblicklich, wenn man die frühere Art der Geschichtschreibung mit der
spätern vergleicht. Am Eude des achtzehnten Jahrhunderts herrschte in der Ge¬
schichtschreibung die schottische Schule. Von der Aufklärung des achtzehnten Jahr¬
hunderts ausgegangen, hatten Hume, Robertson und die Uebrigen sich vor allen
Dingen bemüht, diejenigen Frage», welche der politische Verstand als das Wesent¬
liche im Fortschritt der neuern Zeit begreift, an die Vorzeit zu legen und so klar
als möglich zu beantworten. Ihre Methode war der entschiedenste Nationalismus
mit allen Vorzügen und Schwächen dieser Richtung. Von einer colorirten Dar¬
stellung der Eigenthümlichkeiten einer bestimmten Zeit, der Irrationalitäten in den
großen historischen Charakteren war bei ihnen keine Rede. Ihre Helden traten
ohne Unterschied im Costüm und in der Redeweise des achtzehnten Jahrhunderts
aus. Daß in der neuesten Zeit die Geschichtschreiber den entgegengesetzten Weg
eingeschlagen haben, daß sie sich überall bemühen, jedes Zeitalter mit seinem eige¬
ne» Maß zu messen, jeden historischen Charakter als ein Kunstwerk für sich zu
betrachten, und die Lvcalfarbcu in lebendigen Schilderungen wiederzugeben, anstatt
sie im glatte», uur scheinbar erzählenden Raisonnement zu verflüchtigen, ist un¬
streitig eines der Hauptverdienste unsers Dichters. Zwar hat er sich mit seinen
Schilderungen im Ganzen auf einen ziemlich kleinen Raum der Weltgeschichte ein¬
geschränkt, aber wer sich daran gewöhnt hat, nur irgend eine Zeit mit hinge¬
bender Pietät zu zeichnen, findet sich bald in alle übrigen. Ich mache bei¬
läufig darauf aufmerksam, daß für Deutschland der Hegel'sehen Philosophie ein
ähnliches Verdienst zukommt, wenn diese auch scheinbar das ganz entgegengesetzte
Ziel verfolgte: wovon Walter Scott durch Beispiele die künstlerische Möglichkeit
bewies, das stellte sie in das Licht einer höhern philosophischen Bedeutung und
einer innern wissenschaftlichen Nothwendigkeit. — Wenn Walter Scott in seinen
spätern historischen Versuchen verunglückte, so liegt der Grund theils darin, daß
die Geschichtschreibung noch andere Talente erfordert, als das der plastischen Kunst,
theils an der Gewohnheit einer leichtern Arbeit, welche man im Alter nicht leicht aufgibt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0062" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91255"/>
          <p xml:id="ID_153" prev="#ID_152"> Devorgoil und die Tragödie von Anchindrane 1830) ohne besondern Erfolg; zu¬<lb/>
letzt aus einer reinen Geldspeculation das Leben Napoleons in neun Bän¬<lb/>
den, 1827. Der Ertrag seiner Dichtungen hatte ihn in den Stand gesetzt, sich<lb/>
1811 in der Nähe der Ruinen der Abtei Melrose, die er in seinem Lied des<lb/>
letzten Minstrcl beschrieben hatte, ein Landgut zu kaufen, welches er Abbotsford<lb/>
nannte und so romantisch als möglich ausstattete; 1820 wurde er zum Baronet<lb/>
ernannt. Durch den Banquerout seines Buchhändlers wurde er 1827 veranlaßt,<lb/>
sein Jncognito zu brechen und sich als Verfasser der Waverleynvvellen zu beten-<lb/>
»en.  Auf einer Reise nach Italien starb er im September 1832.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_154"> Mit dem historischen Roman hat Walter Scott der Poesie eine ganz neue<lb/>
Bahn gegeben. In wieweit dieses Genre seine Berechtigung hat, läßt sich ans<lb/>
allgemeinen Gründen nicht nachweisen; seine historische Berechtigung ergibt sich<lb/>
aber augenblicklich, wenn man die frühere Art der Geschichtschreibung mit der<lb/>
spätern vergleicht. Am Eude des achtzehnten Jahrhunderts herrschte in der Ge¬<lb/>
schichtschreibung die schottische Schule. Von der Aufklärung des achtzehnten Jahr¬<lb/>
hunderts ausgegangen, hatten Hume, Robertson und die Uebrigen sich vor allen<lb/>
Dingen bemüht, diejenigen Frage», welche der politische Verstand als das Wesent¬<lb/>
liche im Fortschritt der neuern Zeit begreift, an die Vorzeit zu legen und so klar<lb/>
als möglich zu beantworten. Ihre Methode war der entschiedenste Nationalismus<lb/>
mit allen Vorzügen und Schwächen dieser Richtung. Von einer colorirten Dar¬<lb/>
stellung der Eigenthümlichkeiten einer bestimmten Zeit, der Irrationalitäten in den<lb/>
großen historischen Charakteren war bei ihnen keine Rede. Ihre Helden traten<lb/>
ohne Unterschied im Costüm und in der Redeweise des achtzehnten Jahrhunderts<lb/>
aus. Daß in der neuesten Zeit die Geschichtschreiber den entgegengesetzten Weg<lb/>
eingeschlagen haben, daß sie sich überall bemühen, jedes Zeitalter mit seinem eige¬<lb/>
ne» Maß zu messen, jeden historischen Charakter als ein Kunstwerk für sich zu<lb/>
betrachten, und die Lvcalfarbcu in lebendigen Schilderungen wiederzugeben, anstatt<lb/>
sie im glatte», uur scheinbar erzählenden Raisonnement zu verflüchtigen, ist un¬<lb/>
streitig eines der Hauptverdienste unsers Dichters. Zwar hat er sich mit seinen<lb/>
Schilderungen im Ganzen auf einen ziemlich kleinen Raum der Weltgeschichte ein¬<lb/>
geschränkt, aber wer sich daran gewöhnt hat, nur irgend eine Zeit mit hinge¬<lb/>
bender Pietät zu zeichnen, findet sich bald in alle übrigen. Ich mache bei¬<lb/>
läufig darauf aufmerksam, daß für Deutschland der Hegel'sehen Philosophie ein<lb/>
ähnliches Verdienst zukommt, wenn diese auch scheinbar das ganz entgegengesetzte<lb/>
Ziel verfolgte: wovon Walter Scott durch Beispiele die künstlerische Möglichkeit<lb/>
bewies, das stellte sie in das Licht einer höhern philosophischen Bedeutung und<lb/>
einer innern wissenschaftlichen Nothwendigkeit. &#x2014; Wenn Walter Scott in seinen<lb/>
spätern historischen Versuchen verunglückte, so liegt der Grund theils darin, daß<lb/>
die Geschichtschreibung noch andere Talente erfordert, als das der plastischen Kunst,<lb/>
theils an der Gewohnheit einer leichtern Arbeit, welche man im Alter nicht leicht aufgibt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0062] Devorgoil und die Tragödie von Anchindrane 1830) ohne besondern Erfolg; zu¬ letzt aus einer reinen Geldspeculation das Leben Napoleons in neun Bän¬ den, 1827. Der Ertrag seiner Dichtungen hatte ihn in den Stand gesetzt, sich 1811 in der Nähe der Ruinen der Abtei Melrose, die er in seinem Lied des letzten Minstrcl beschrieben hatte, ein Landgut zu kaufen, welches er Abbotsford nannte und so romantisch als möglich ausstattete; 1820 wurde er zum Baronet ernannt. Durch den Banquerout seines Buchhändlers wurde er 1827 veranlaßt, sein Jncognito zu brechen und sich als Verfasser der Waverleynvvellen zu beten- »en. Auf einer Reise nach Italien starb er im September 1832. Mit dem historischen Roman hat Walter Scott der Poesie eine ganz neue Bahn gegeben. In wieweit dieses Genre seine Berechtigung hat, läßt sich ans allgemeinen Gründen nicht nachweisen; seine historische Berechtigung ergibt sich aber augenblicklich, wenn man die frühere Art der Geschichtschreibung mit der spätern vergleicht. Am Eude des achtzehnten Jahrhunderts herrschte in der Ge¬ schichtschreibung die schottische Schule. Von der Aufklärung des achtzehnten Jahr¬ hunderts ausgegangen, hatten Hume, Robertson und die Uebrigen sich vor allen Dingen bemüht, diejenigen Frage», welche der politische Verstand als das Wesent¬ liche im Fortschritt der neuern Zeit begreift, an die Vorzeit zu legen und so klar als möglich zu beantworten. Ihre Methode war der entschiedenste Nationalismus mit allen Vorzügen und Schwächen dieser Richtung. Von einer colorirten Dar¬ stellung der Eigenthümlichkeiten einer bestimmten Zeit, der Irrationalitäten in den großen historischen Charakteren war bei ihnen keine Rede. Ihre Helden traten ohne Unterschied im Costüm und in der Redeweise des achtzehnten Jahrhunderts aus. Daß in der neuesten Zeit die Geschichtschreiber den entgegengesetzten Weg eingeschlagen haben, daß sie sich überall bemühen, jedes Zeitalter mit seinem eige¬ ne» Maß zu messen, jeden historischen Charakter als ein Kunstwerk für sich zu betrachten, und die Lvcalfarbcu in lebendigen Schilderungen wiederzugeben, anstatt sie im glatte», uur scheinbar erzählenden Raisonnement zu verflüchtigen, ist un¬ streitig eines der Hauptverdienste unsers Dichters. Zwar hat er sich mit seinen Schilderungen im Ganzen auf einen ziemlich kleinen Raum der Weltgeschichte ein¬ geschränkt, aber wer sich daran gewöhnt hat, nur irgend eine Zeit mit hinge¬ bender Pietät zu zeichnen, findet sich bald in alle übrigen. Ich mache bei¬ läufig darauf aufmerksam, daß für Deutschland der Hegel'sehen Philosophie ein ähnliches Verdienst zukommt, wenn diese auch scheinbar das ganz entgegengesetzte Ziel verfolgte: wovon Walter Scott durch Beispiele die künstlerische Möglichkeit bewies, das stellte sie in das Licht einer höhern philosophischen Bedeutung und einer innern wissenschaftlichen Nothwendigkeit. — Wenn Walter Scott in seinen spätern historischen Versuchen verunglückte, so liegt der Grund theils darin, daß die Geschichtschreibung noch andere Talente erfordert, als das der plastischen Kunst, theils an der Gewohnheit einer leichtern Arbeit, welche man im Alter nicht leicht aufgibt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/62
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/62>, abgerufen am 01.09.2024.