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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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solches Urtheil provocirt. Es wird Niemand einfallen, über die Physik oder die
Philologie ein competentes Gutachten abgeben zu wollen, der dieser Wissenschaften
nicht mächtig ist, aber es fällt auch keiner derselben ein, über ihr Gebiet hinaus¬
zugehen. Die Physik giebt keine Regeln über die Einrichtung des Staats, und
die Philologie läßt sich nicht beikommen, den Zoologen oder Botaniker zu corri-
giren. Die Philosophie dagegen ist mit ihren Recepten in allen Fächern bei der
Hand, und man kann es z. B. dem Naturforscher nicht verdenken, wenn er den
Philosophen, der ihm ^ priori eine neue Natur construiren will, zurechtweist,
anch ohne in die Geheimnisse des absoluten Denkens eingeweiht zu sein. Die
sogenannte Phlosophie der Natur, obgleich sie in durchaus andern Formen sich
bewegt, als die Physik, hat doch keinen andern Inhalt, und es muß den Natur¬
forscher eben so verletzen, wenn ihre Resultate deu seinigen widersprechen, als
wenn sie mit ihnen zusammenfallen, denn im letztem Fall muß er die Voraus¬
setzung zurückweisen, daß man ans einem andern Wege als dem seinigen zu diesen
Resultaten gelangen könne. Wenn Hegel auch nicht durch einzelne, nachträglich
gemachte Entdeckungen, z. B. die der Asteroiden, in seinen Deductionen wider¬
legt wäre, so würde der Naturforscher dennoch sein ganzes System für unrichtig
halten, denn das System beruht nicht blos aus den Resultaten, sondern aus der
Begründung derselben.

In den eigentlichen Wissenschaften ist namentlich in neuerer Zeit eine allge¬
meine wissenschaftliche Methode herrschend geworden. So wie die Mathematik und
die Chemie für die sogenannten exacten Wissenschaften, d. h. für die in denselben
vorkommende Beobachtung und Deduction, die Form gegeben haben, so hat es
in den historischen Wissenschaften, denen anzugehören sich unter andern auch die
Theologie und Jurisprudenz allmälig bequemen müssen, die philologische Kritik
gethan. Die Philosophie allein ist es, die sich dieser Methode entzieht, und
deren Sätze weder eine Probe innerhalb der objectiven Welt verstatten, noch
jene gelassene Verfolgung des Beweises, die weiter Nichts voraussetzt, als den
gesunden Menschenverstand, die Fähigkeit, zu begreifen. Am Schlimmsten ist es
sogar, wenn sie sich den Anschein giebt, die Methode der strengen Wissenschaft
zu adoptiren. So hat z. B. Spinoza's Ethik die äußere-Form eines mathema¬
tischen Lehrbuchs, in dem jeder einzelne Satz mit dem <>rocl si-ire clsmon-
slranüuw schließt, aber die Mathematik bezieht sich mit ihren Beweisen nur ans
die'einfache Abstraction der sinnlichen Anschauung, und ihre sogenannten Grund¬
sätze, die sie ohne Beweis vorausschickt, haben weiter keinen andern Zweck, als
den Schüler auf die Bedeutung der Ausdrücke, deren sie sich bedient, aufmerksam
zu machen. Wenn sie z. B. sagt: jede Große ist sich selbst gleich, so will sie
damit nur andeuten, daß man sich bei Identität und Gleichheit zwei verschiedene
Begriffe zu denken habe, von denen der letzte in dem ersten enthalten sei; sie
will nur ihren Gesichtspunkt angeben, nicht etwa eine neue Wahrheit, die der


solches Urtheil provocirt. Es wird Niemand einfallen, über die Physik oder die
Philologie ein competentes Gutachten abgeben zu wollen, der dieser Wissenschaften
nicht mächtig ist, aber es fällt auch keiner derselben ein, über ihr Gebiet hinaus¬
zugehen. Die Physik giebt keine Regeln über die Einrichtung des Staats, und
die Philologie läßt sich nicht beikommen, den Zoologen oder Botaniker zu corri-
giren. Die Philosophie dagegen ist mit ihren Recepten in allen Fächern bei der
Hand, und man kann es z. B. dem Naturforscher nicht verdenken, wenn er den
Philosophen, der ihm ^ priori eine neue Natur construiren will, zurechtweist,
anch ohne in die Geheimnisse des absoluten Denkens eingeweiht zu sein. Die
sogenannte Phlosophie der Natur, obgleich sie in durchaus andern Formen sich
bewegt, als die Physik, hat doch keinen andern Inhalt, und es muß den Natur¬
forscher eben so verletzen, wenn ihre Resultate deu seinigen widersprechen, als
wenn sie mit ihnen zusammenfallen, denn im letztem Fall muß er die Voraus¬
setzung zurückweisen, daß man ans einem andern Wege als dem seinigen zu diesen
Resultaten gelangen könne. Wenn Hegel auch nicht durch einzelne, nachträglich
gemachte Entdeckungen, z. B. die der Asteroiden, in seinen Deductionen wider¬
legt wäre, so würde der Naturforscher dennoch sein ganzes System für unrichtig
halten, denn das System beruht nicht blos aus den Resultaten, sondern aus der
Begründung derselben.

In den eigentlichen Wissenschaften ist namentlich in neuerer Zeit eine allge¬
meine wissenschaftliche Methode herrschend geworden. So wie die Mathematik und
die Chemie für die sogenannten exacten Wissenschaften, d. h. für die in denselben
vorkommende Beobachtung und Deduction, die Form gegeben haben, so hat es
in den historischen Wissenschaften, denen anzugehören sich unter andern auch die
Theologie und Jurisprudenz allmälig bequemen müssen, die philologische Kritik
gethan. Die Philosophie allein ist es, die sich dieser Methode entzieht, und
deren Sätze weder eine Probe innerhalb der objectiven Welt verstatten, noch
jene gelassene Verfolgung des Beweises, die weiter Nichts voraussetzt, als den
gesunden Menschenverstand, die Fähigkeit, zu begreifen. Am Schlimmsten ist es
sogar, wenn sie sich den Anschein giebt, die Methode der strengen Wissenschaft
zu adoptiren. So hat z. B. Spinoza's Ethik die äußere-Form eines mathema¬
tischen Lehrbuchs, in dem jeder einzelne Satz mit dem <>rocl si-ire clsmon-
slranüuw schließt, aber die Mathematik bezieht sich mit ihren Beweisen nur ans
die'einfache Abstraction der sinnlichen Anschauung, und ihre sogenannten Grund¬
sätze, die sie ohne Beweis vorausschickt, haben weiter keinen andern Zweck, als
den Schüler auf die Bedeutung der Ausdrücke, deren sie sich bedient, aufmerksam
zu machen. Wenn sie z. B. sagt: jede Große ist sich selbst gleich, so will sie
damit nur andeuten, daß man sich bei Identität und Gleichheit zwei verschiedene
Begriffe zu denken habe, von denen der letzte in dem ersten enthalten sei; sie
will nur ihren Gesichtspunkt angeben, nicht etwa eine neue Wahrheit, die der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/374>, abgerufen am 27.07.2024.