Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.Die Zeit, welcher Kleist'S Dichtung angehört, sind die Jahre -1803--1811. Es ließe sich aus seinem Leben, wenn es in allen einzelnen Phasen genau Noch immer zehrte der Faustische Drang des maßlosen Gefühls an dem Die Zeit, welcher Kleist'S Dichtung angehört, sind die Jahre -1803—1811. Es ließe sich aus seinem Leben, wenn es in allen einzelnen Phasen genau Noch immer zehrte der Faustische Drang des maßlosen Gefühls an dem <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0334" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91527"/> <p xml:id="ID_913"> Die Zeit, welcher Kleist'S Dichtung angehört, sind die Jahre -1803—1811.<lb/> Er war I77l> zu Frankfurt a. O. geboren, machte als Preußischer Junker den<lb/> Nheiufeldzug mit, »ahn dann seinen Abschied, wurde 1800 im Departement des<lb/> Minister Struensee angestellt und eine Zeit lang in Paris verwendet, wo er ein<lb/> ziemlich dissvlnteS Leben führte; wenigstens sind seine Briefe aus jeuer Zeit voll<lb/> von Selbstvorwürfen. Er wurde, wie vieles begabten Männer jener Zeit, von<lb/> einem brennenden Ehrgeiz verzehrt, und hatte sich doch kein klares Bild davon<lb/> gemacht, uach welcher Richtung er sich treiben lassen wollte. Jener Ehrgeiz war<lb/> bei ihm uicht, was er bei deu meisten Andern zu sein pflegt, ein unbestimmter<lb/> Idealismus, der aus einer verworrenen Lecture hervorgeht, sondern die Empfindung<lb/> eiuer wirklichen Kraft, die aber kein Maß zu finden wußte. — 1806 kehrte er nach<lb/> Berlin zurück, wurde uach der Schlacht bei Jena vou deu Franzosen verhaftet,<lb/> und hatte volle Gelegenheit, die Noth und Schmach seines Vaterlandes in seinem<lb/> eigenen Schicksal ans das Bielersee mitzufühlen. Sein Vorhaben, im Jahre 1809<lb/> den Krieg in Östreichischem Dienst mitzumachen, zerschlug sich. Nach dem unglück¬<lb/> lichen Ausgang desselben sah er für das Vaterland keine Rettung mehr, und eine<lb/> bittere Verzweiflung bemächtigte sich seines Herzens, noch gesteigert durch unklare<lb/> persönliche Verhältnisse. So endete er im Jahre 1811 zu Potsdam mit seiner<lb/> Geliebten Henriette Vogel durch Selbstmord.</p><lb/> <p xml:id="ID_914"> Es ließe sich aus seinem Leben, wenn es in allen einzelnen Phasen genau<lb/> bekannt wäre, ein sehr sprechendes individuelles Bild von der damaligen Zeit<lb/> entwerfen, wie sie sich in einem edlen Gemüth brechen mußte, das seine richtige<lb/> Stellung im Leben nicht gesunden. Unsre Aufgabe bezieht sich nur ans seine<lb/> literarische Bedeutung.</p><lb/> <p xml:id="ID_915" next="#ID_916"> Noch immer zehrte der Faustische Drang des maßlosen Gefühls an dem<lb/> Herzen der Jngend, aber er hatte seine Naivetät, den Glauben an seine Berech¬<lb/> tigung verloren, und war in Formeln und Convenienz ausgegangen. In den<lb/> schrecklichen Irrwegen der Revolution hatte sich praktisch, in dem ebenso verwor¬<lb/> renen Labyrinth der Deutschen Philosophie theoretisch, der Glaube an das Ideal<lb/> verzehrt, der Geist war an sich selber irre geworden, die Sehnsucht nach einem<lb/> Glauben war geblieben, aber die Hoffnung hatte mau fast ganz ausgegeben.<lb/> Man war müde, sceptisch und blasirt. Auf die stolze Selbstvergötterung der<lb/> Fichte'schen Zeit folgte der gestaltlose polypenartige Natnrwnchs der Naturphilosophie,<lb/> die Apotheose der Dämmerung; auf deu verwegenen Idealismus, der Gott nud<lb/> die Welt verschlungen hatte, eine halb demüthige, halb cvqnettc Symbolik, die ein<lb/> damaliger Satyriker sehr gut in dem Verse ausdrückt: „Vate-r Goethe, schaffe mir<lb/> Licht, geschaffen ist die Welt, doch seh' ich sie noch nicht." Die Hitze der souve-<lb/> rainen Leidenschaft verlor sich in die trübe Mystik eines unnennbaren, unfühlbaren,<lb/> unbegreiflichen Empfindens. Das glänzende Pantheon aller Götter nud Nationen<lb/> verengte sich in eine enge pietistische Beistube. Ein nenmodischcs raffinirtes Chri-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0334]
Die Zeit, welcher Kleist'S Dichtung angehört, sind die Jahre -1803—1811.
Er war I77l> zu Frankfurt a. O. geboren, machte als Preußischer Junker den
Nheiufeldzug mit, »ahn dann seinen Abschied, wurde 1800 im Departement des
Minister Struensee angestellt und eine Zeit lang in Paris verwendet, wo er ein
ziemlich dissvlnteS Leben führte; wenigstens sind seine Briefe aus jeuer Zeit voll
von Selbstvorwürfen. Er wurde, wie vieles begabten Männer jener Zeit, von
einem brennenden Ehrgeiz verzehrt, und hatte sich doch kein klares Bild davon
gemacht, uach welcher Richtung er sich treiben lassen wollte. Jener Ehrgeiz war
bei ihm uicht, was er bei deu meisten Andern zu sein pflegt, ein unbestimmter
Idealismus, der aus einer verworrenen Lecture hervorgeht, sondern die Empfindung
eiuer wirklichen Kraft, die aber kein Maß zu finden wußte. — 1806 kehrte er nach
Berlin zurück, wurde uach der Schlacht bei Jena vou deu Franzosen verhaftet,
und hatte volle Gelegenheit, die Noth und Schmach seines Vaterlandes in seinem
eigenen Schicksal ans das Bielersee mitzufühlen. Sein Vorhaben, im Jahre 1809
den Krieg in Östreichischem Dienst mitzumachen, zerschlug sich. Nach dem unglück¬
lichen Ausgang desselben sah er für das Vaterland keine Rettung mehr, und eine
bittere Verzweiflung bemächtigte sich seines Herzens, noch gesteigert durch unklare
persönliche Verhältnisse. So endete er im Jahre 1811 zu Potsdam mit seiner
Geliebten Henriette Vogel durch Selbstmord.
Es ließe sich aus seinem Leben, wenn es in allen einzelnen Phasen genau
bekannt wäre, ein sehr sprechendes individuelles Bild von der damaligen Zeit
entwerfen, wie sie sich in einem edlen Gemüth brechen mußte, das seine richtige
Stellung im Leben nicht gesunden. Unsre Aufgabe bezieht sich nur ans seine
literarische Bedeutung.
Noch immer zehrte der Faustische Drang des maßlosen Gefühls an dem
Herzen der Jngend, aber er hatte seine Naivetät, den Glauben an seine Berech¬
tigung verloren, und war in Formeln und Convenienz ausgegangen. In den
schrecklichen Irrwegen der Revolution hatte sich praktisch, in dem ebenso verwor¬
renen Labyrinth der Deutschen Philosophie theoretisch, der Glaube an das Ideal
verzehrt, der Geist war an sich selber irre geworden, die Sehnsucht nach einem
Glauben war geblieben, aber die Hoffnung hatte mau fast ganz ausgegeben.
Man war müde, sceptisch und blasirt. Auf die stolze Selbstvergötterung der
Fichte'schen Zeit folgte der gestaltlose polypenartige Natnrwnchs der Naturphilosophie,
die Apotheose der Dämmerung; auf deu verwegenen Idealismus, der Gott nud
die Welt verschlungen hatte, eine halb demüthige, halb cvqnettc Symbolik, die ein
damaliger Satyriker sehr gut in dem Verse ausdrückt: „Vate-r Goethe, schaffe mir
Licht, geschaffen ist die Welt, doch seh' ich sie noch nicht." Die Hitze der souve-
rainen Leidenschaft verlor sich in die trübe Mystik eines unnennbaren, unfühlbaren,
unbegreiflichen Empfindens. Das glänzende Pantheon aller Götter nud Nationen
verengte sich in eine enge pietistische Beistube. Ein nenmodischcs raffinirtes Chri-
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