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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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schleichen, ob es ihr mit diesem Vorsatz Ernst gewesen sei; doch tritt in der Nach¬
richt, Theseus sei todt, ein Moment von genügendem Gewicht hinzu, um die
Verwandlung ihrer Seelenstimmung zu erklären. Die Fiction vom Tode des
Theseus ist allerdings an sich ein sehr komödienhaftes Mittel. Die herbeigeführte
Wendung erhält durch sie den Charakter einer Intrigue des Zufalls. Dennoch
gewinnt die moderne Auffassung damit einen sehr bedeutsamen Vortheil: Phädra's
Handeln tritt aus der Abhängigkeit von äußern Gewalten und wird ein selbst¬
ständiges ans dem rein menschlichen Gründe ihrer unbezähmbaren Leidenschaft.
Indem sie, vou dieser hingerissen, dem Hyppolyt ihre Liebe gesteht, sinkt sie frei¬
lich von der abgeschlossenen Hohe strenger Moral herab, von der die Phädra des
Euripides keinen Augenblick sich entfernt, aber sie wird in der That um so
viel menschlicher und interessanter; sie wird wahrer, da wir bei der star¬
ren Sittlichkeit der Griechischen Phädra kaum begreifen, wie in einer so willens¬
fertigen Natur die Leidenschaft in solcher Heftigkeit entbrennen konnte. Die Phädra
des Racine sucht den Hippolyt nicht in der klar bewußten Absicht ans, ihm die
geheimsten Gründe ihres Herzens zu eröffnen. Die . durch den Tod des Theseus
nöthig gewordene Königswahl, bei der sie ihres Sohnes Recht wahrnehmen will,
führt sie zu dem schmerzlich Geliebten. Sein Anblick ruft das Gefühl mit unwi¬
derstehlicher Gluth in ihrer Seele wach und treibt das Wort des Geständnisses
auf die Lippe der nun minder gefesselten, verwittweten Fran. Die viel angefoch¬
tene Unsittlichkeit dieser Erklärung wird sehr gemildert durch die Schilderung, welche
vorher Hippolyt vou den Liebschaften seines Vaters entworfen, dnrch den Umstand,
daß Theseus seine Wohlthäterin Ariadne verlassen und Phädra, die Schwester
dieser Ariadne, geraubt, um sich mit ihr zu vermählen. Wie Phädra, nach
der Meldung vom Tode -des Gemahls den Bitten der Amme nachgebend, um
ihres Sohnes willen zu leben beschließt, und in der Unterredung mit Hippolyt
von dem Ausbruch der Leidenschaft überrascht wird, so zieht sich der Kampf zwi¬
schen dem Drange des Gefühls und der Pflicht dnrch die ganze fernere Entwicke¬
lung des Charakters. Ju dem Sturm und in den Zweifeln dieses Kampfes weiß
die Unglückselige, als Theseus lebend wiederkehrt, sich nicht zu rathen, und läßt
es willenlos geschehen, daß die Amme den Hippolyt vor dessen Vater des Ehe¬
bruchs bezüchtigt.

Racine hat bei seiner Umarbeitung die passive Leidenschaft der Phädra zu
einer activen gemacht; mit der Verläumdung des Hippolyt verfuhr er gerade um¬
gekehrt. Die Phädra des Euripides geht mit der selbstvollbrachten Verläumdung
aus dem Leben, indem sie dieselbe vor ihrem Tode niederschreibe; die Phädra
des Racine verhindert nur den Vorsatz der Amme nicht, welche die Schuld
auf den Unschuldigen wälzt. Ich muß gestehen, daß ich in der reflectirten Ab¬
sicht, mit welcher Phädra dort die lügnerische Anklage vollführt, einen höhern
Grad von Unsittlichkeit erblicken muß, als in der Ratlosigkeit, in welcher sie die-


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schleichen, ob es ihr mit diesem Vorsatz Ernst gewesen sei; doch tritt in der Nach¬
richt, Theseus sei todt, ein Moment von genügendem Gewicht hinzu, um die
Verwandlung ihrer Seelenstimmung zu erklären. Die Fiction vom Tode des
Theseus ist allerdings an sich ein sehr komödienhaftes Mittel. Die herbeigeführte
Wendung erhält durch sie den Charakter einer Intrigue des Zufalls. Dennoch
gewinnt die moderne Auffassung damit einen sehr bedeutsamen Vortheil: Phädra's
Handeln tritt aus der Abhängigkeit von äußern Gewalten und wird ein selbst¬
ständiges ans dem rein menschlichen Gründe ihrer unbezähmbaren Leidenschaft.
Indem sie, vou dieser hingerissen, dem Hyppolyt ihre Liebe gesteht, sinkt sie frei¬
lich von der abgeschlossenen Hohe strenger Moral herab, von der die Phädra des
Euripides keinen Augenblick sich entfernt, aber sie wird in der That um so
viel menschlicher und interessanter; sie wird wahrer, da wir bei der star¬
ren Sittlichkeit der Griechischen Phädra kaum begreifen, wie in einer so willens¬
fertigen Natur die Leidenschaft in solcher Heftigkeit entbrennen konnte. Die Phädra
des Racine sucht den Hippolyt nicht in der klar bewußten Absicht ans, ihm die
geheimsten Gründe ihres Herzens zu eröffnen. Die . durch den Tod des Theseus
nöthig gewordene Königswahl, bei der sie ihres Sohnes Recht wahrnehmen will,
führt sie zu dem schmerzlich Geliebten. Sein Anblick ruft das Gefühl mit unwi¬
derstehlicher Gluth in ihrer Seele wach und treibt das Wort des Geständnisses
auf die Lippe der nun minder gefesselten, verwittweten Fran. Die viel angefoch¬
tene Unsittlichkeit dieser Erklärung wird sehr gemildert durch die Schilderung, welche
vorher Hippolyt vou den Liebschaften seines Vaters entworfen, dnrch den Umstand,
daß Theseus seine Wohlthäterin Ariadne verlassen und Phädra, die Schwester
dieser Ariadne, geraubt, um sich mit ihr zu vermählen. Wie Phädra, nach
der Meldung vom Tode -des Gemahls den Bitten der Amme nachgebend, um
ihres Sohnes willen zu leben beschließt, und in der Unterredung mit Hippolyt
von dem Ausbruch der Leidenschaft überrascht wird, so zieht sich der Kampf zwi¬
schen dem Drange des Gefühls und der Pflicht dnrch die ganze fernere Entwicke¬
lung des Charakters. Ju dem Sturm und in den Zweifeln dieses Kampfes weiß
die Unglückselige, als Theseus lebend wiederkehrt, sich nicht zu rathen, und läßt
es willenlos geschehen, daß die Amme den Hippolyt vor dessen Vater des Ehe¬
bruchs bezüchtigt.

Racine hat bei seiner Umarbeitung die passive Leidenschaft der Phädra zu
einer activen gemacht; mit der Verläumdung des Hippolyt verfuhr er gerade um¬
gekehrt. Die Phädra des Euripides geht mit der selbstvollbrachten Verläumdung
aus dem Leben, indem sie dieselbe vor ihrem Tode niederschreibe; die Phädra
des Racine verhindert nur den Vorsatz der Amme nicht, welche die Schuld
auf den Unschuldigen wälzt. Ich muß gestehen, daß ich in der reflectirten Ab¬
sicht, mit welcher Phädra dort die lügnerische Anklage vollführt, einen höhern
Grad von Unsittlichkeit erblicken muß, als in der Ratlosigkeit, in welcher sie die-


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[0277] schleichen, ob es ihr mit diesem Vorsatz Ernst gewesen sei; doch tritt in der Nach¬ richt, Theseus sei todt, ein Moment von genügendem Gewicht hinzu, um die Verwandlung ihrer Seelenstimmung zu erklären. Die Fiction vom Tode des Theseus ist allerdings an sich ein sehr komödienhaftes Mittel. Die herbeigeführte Wendung erhält durch sie den Charakter einer Intrigue des Zufalls. Dennoch gewinnt die moderne Auffassung damit einen sehr bedeutsamen Vortheil: Phädra's Handeln tritt aus der Abhängigkeit von äußern Gewalten und wird ein selbst¬ ständiges ans dem rein menschlichen Gründe ihrer unbezähmbaren Leidenschaft. Indem sie, vou dieser hingerissen, dem Hyppolyt ihre Liebe gesteht, sinkt sie frei¬ lich von der abgeschlossenen Hohe strenger Moral herab, von der die Phädra des Euripides keinen Augenblick sich entfernt, aber sie wird in der That um so viel menschlicher und interessanter; sie wird wahrer, da wir bei der star¬ ren Sittlichkeit der Griechischen Phädra kaum begreifen, wie in einer so willens¬ fertigen Natur die Leidenschaft in solcher Heftigkeit entbrennen konnte. Die Phädra des Racine sucht den Hippolyt nicht in der klar bewußten Absicht ans, ihm die geheimsten Gründe ihres Herzens zu eröffnen. Die . durch den Tod des Theseus nöthig gewordene Königswahl, bei der sie ihres Sohnes Recht wahrnehmen will, führt sie zu dem schmerzlich Geliebten. Sein Anblick ruft das Gefühl mit unwi¬ derstehlicher Gluth in ihrer Seele wach und treibt das Wort des Geständnisses auf die Lippe der nun minder gefesselten, verwittweten Fran. Die viel angefoch¬ tene Unsittlichkeit dieser Erklärung wird sehr gemildert durch die Schilderung, welche vorher Hippolyt vou den Liebschaften seines Vaters entworfen, dnrch den Umstand, daß Theseus seine Wohlthäterin Ariadne verlassen und Phädra, die Schwester dieser Ariadne, geraubt, um sich mit ihr zu vermählen. Wie Phädra, nach der Meldung vom Tode -des Gemahls den Bitten der Amme nachgebend, um ihres Sohnes willen zu leben beschließt, und in der Unterredung mit Hippolyt von dem Ausbruch der Leidenschaft überrascht wird, so zieht sich der Kampf zwi¬ schen dem Drange des Gefühls und der Pflicht dnrch die ganze fernere Entwicke¬ lung des Charakters. Ju dem Sturm und in den Zweifeln dieses Kampfes weiß die Unglückselige, als Theseus lebend wiederkehrt, sich nicht zu rathen, und läßt es willenlos geschehen, daß die Amme den Hippolyt vor dessen Vater des Ehe¬ bruchs bezüchtigt. Racine hat bei seiner Umarbeitung die passive Leidenschaft der Phädra zu einer activen gemacht; mit der Verläumdung des Hippolyt verfuhr er gerade um¬ gekehrt. Die Phädra des Euripides geht mit der selbstvollbrachten Verläumdung aus dem Leben, indem sie dieselbe vor ihrem Tode niederschreibe; die Phädra des Racine verhindert nur den Vorsatz der Amme nicht, welche die Schuld auf den Unschuldigen wälzt. Ich muß gestehen, daß ich in der reflectirten Ab¬ sicht, mit welcher Phädra dort die lügnerische Anklage vollführt, einen höhern Grad von Unsittlichkeit erblicken muß, als in der Ratlosigkeit, in welcher sie die- Grenzbotm. U. I8SI. 3i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/277>, abgerufen am 09.01.2025.