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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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verschiedener sittlicher Momente zu concreten Figuren erhoben; ihre Leidenschaften
sind nicht fingirt, sondern aus innerlichem Leben hervorgegangen, nach einem sehr
sorgfältigen Studium der menschlichen Natur gezeichnet und durch die bestimmt
abgegrenzten Verhältnisse, in denen sie sich bewegen, mit Maß und Form versehen.
Zum Lustspielcharakter gehört die individuelle Beschäftigung, der Stand, das Amt,
das Alter u. f. w. sehr wesentlich. Personen, die nur Gegenstände des Lust¬
spiels sind und weiter nichts, gehören nicht ins Lustspiel. Scribe hat darin ein
sehr richtiges Maß getroffen, und hat sich z. B. von der entgegengesetzten Ein¬
seitigkeit Molisrc's, in den Lustspielfiguren nur die bestimmte Eigenschaft, nur das
bestimmte Amt und die bestimmte Beschäftigung zu schildern, fern gehalten. Er
schildert nicht blos Geizige, Heuchler, Blaustrümpfe, Charlataus im Allgemeinen,
sondern alle diese Eigenschaften sind mit einer bestimmten Individualität verknüpft.
Dazu breitet sich über diese ganze bunte und charakteristische Welt die Heiterkeit
eines unbefangenen Gemüths und die Politur der Pariser Bildung. Beides
unterscheidet ihn von unserm Jffland, der im Uebrigen in dem geschickten Arran¬
gement seiner Scenen wie in der Gewissenhaftigkeit in seinen Charakterzügen ihm
an die Seite zu stellen ist; aber von dem eigentlichen Reiz der Scribe'schen Lust¬
spiele, der freien, feinen und heitern Bewegung seiner Figuren, ist bei Jffland
nichts zu finden. Gerade diese Feinheit, namentlich im Dialog, macht die Ueber¬
setzung der Scribe'schen Lustspiele uicht leicht. Mit unsrer bequemen Art, zu
übersetzen, daß wir nur ungefähr den Sinn wiedergeben, verfallen wir nur zu
leicht in Trivialität und Rohheit.

Die Aufführung von Stücken, welche für die sittliche Anschauung und' Em¬
pfindung eines bestimmten Volks geschrieben sind, bei einem fremden Volk, hat
überhaupt etwas Mißliches. Zwar bin ich überzeugt, daß die Sittlichkeit in
Scribe's Stücken unendlich hoher steht, als die gespreitzte Sentimentalität unserer
Komödie aus den letzten zwei Jahrzehnten, allein es wäre einseitig, wenn man
es dem deutschen Publicum verargen wollte, sich gegen eine Vorstellungsweise zu
sträuben, die nicht die seinige ist. Ein gutes Lustspiel, so wie ein gesundes sitt¬
liches Wesen leiht man nicht aus der Fremde; es muß sich aus dem innern Mark
des Volkes herausarbeiten.

Dagegen ist unsern Lustspieldichtern in Beziehung ans ihr Handwerk und
auf ihre Kunst ein sehr gewissenhaftes Studium der Scribe'schen Stücke dringend
zu empfehlen. Schon über die ersten Rudimente, z. B. über die Kunst, die
Sachlage deutlich zu macheu, ohne langweilig zu werden, die Handlung zu ver¬
wickeln, ohne ius Unklare zu gerathen, eine leidenschaftliche Spannung und Be¬
wegung zu erregen, ohne die Heiterkeit und gute Lanne zu verlieren, in den
Mitteln Maß zu halten, ohne einförmig zu werden u. s. w. können sie bei ihm
den besten Aufschluß erhalten; sie werden aber auch über das Feinere der Kunst
Manches bei ihm lernen können, wenn sie sich durch seine anscheinende Frivolität


verschiedener sittlicher Momente zu concreten Figuren erhoben; ihre Leidenschaften
sind nicht fingirt, sondern aus innerlichem Leben hervorgegangen, nach einem sehr
sorgfältigen Studium der menschlichen Natur gezeichnet und durch die bestimmt
abgegrenzten Verhältnisse, in denen sie sich bewegen, mit Maß und Form versehen.
Zum Lustspielcharakter gehört die individuelle Beschäftigung, der Stand, das Amt,
das Alter u. f. w. sehr wesentlich. Personen, die nur Gegenstände des Lust¬
spiels sind und weiter nichts, gehören nicht ins Lustspiel. Scribe hat darin ein
sehr richtiges Maß getroffen, und hat sich z. B. von der entgegengesetzten Ein¬
seitigkeit Molisrc's, in den Lustspielfiguren nur die bestimmte Eigenschaft, nur das
bestimmte Amt und die bestimmte Beschäftigung zu schildern, fern gehalten. Er
schildert nicht blos Geizige, Heuchler, Blaustrümpfe, Charlataus im Allgemeinen,
sondern alle diese Eigenschaften sind mit einer bestimmten Individualität verknüpft.
Dazu breitet sich über diese ganze bunte und charakteristische Welt die Heiterkeit
eines unbefangenen Gemüths und die Politur der Pariser Bildung. Beides
unterscheidet ihn von unserm Jffland, der im Uebrigen in dem geschickten Arran¬
gement seiner Scenen wie in der Gewissenhaftigkeit in seinen Charakterzügen ihm
an die Seite zu stellen ist; aber von dem eigentlichen Reiz der Scribe'schen Lust¬
spiele, der freien, feinen und heitern Bewegung seiner Figuren, ist bei Jffland
nichts zu finden. Gerade diese Feinheit, namentlich im Dialog, macht die Ueber¬
setzung der Scribe'schen Lustspiele uicht leicht. Mit unsrer bequemen Art, zu
übersetzen, daß wir nur ungefähr den Sinn wiedergeben, verfallen wir nur zu
leicht in Trivialität und Rohheit.

Die Aufführung von Stücken, welche für die sittliche Anschauung und' Em¬
pfindung eines bestimmten Volks geschrieben sind, bei einem fremden Volk, hat
überhaupt etwas Mißliches. Zwar bin ich überzeugt, daß die Sittlichkeit in
Scribe's Stücken unendlich hoher steht, als die gespreitzte Sentimentalität unserer
Komödie aus den letzten zwei Jahrzehnten, allein es wäre einseitig, wenn man
es dem deutschen Publicum verargen wollte, sich gegen eine Vorstellungsweise zu
sträuben, die nicht die seinige ist. Ein gutes Lustspiel, so wie ein gesundes sitt¬
liches Wesen leiht man nicht aus der Fremde; es muß sich aus dem innern Mark
des Volkes herausarbeiten.

Dagegen ist unsern Lustspieldichtern in Beziehung ans ihr Handwerk und
auf ihre Kunst ein sehr gewissenhaftes Studium der Scribe'schen Stücke dringend
zu empfehlen. Schon über die ersten Rudimente, z. B. über die Kunst, die
Sachlage deutlich zu macheu, ohne langweilig zu werden, die Handlung zu ver¬
wickeln, ohne ius Unklare zu gerathen, eine leidenschaftliche Spannung und Be¬
wegung zu erregen, ohne die Heiterkeit und gute Lanne zu verlieren, in den
Mitteln Maß zu halten, ohne einförmig zu werden u. s. w. können sie bei ihm
den besten Aufschluß erhalten; sie werden aber auch über das Feinere der Kunst
Manches bei ihm lernen können, wenn sie sich durch seine anscheinende Frivolität


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/20>, abgerufen am 27.07.2024.