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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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nützen Beiwerks, eine sehr große Leichtfertigkeit in dem Fortschritt der Hand-
lung und eine Komik, die nach nnserm Geschmack zu stark aufgetragen ist.
Beaumarchais war für seine Zeit von unglaublicher Wichtigkeit, aber seine
Lustspiele siud doch so breit angelegt, daß man den Auszug, der in der
Oper daraus gemacht ist, als einen dramatischen Fortschritt anerkennen
muß, ungefähr wie in deu spätern Ausgaben der Göthe'schen Operetten ein
Fortschritt gegen die frühern liegt. In Scribe's Werken dagegen findet man
eine nicht geringe Zahl kleinerer und größerer Lustspiele, die man geradezu als
mustergültig aufstellen kann.

Scribe's erstes Vaudeville, "der Derwisch," erschien im Jahre 1811. Er
war damals 20 Jahre alt. Nachdem er eine Reihe von Jahren hindurch das
Gymnase und andere Vaudevillcthcater fast ausschließlich versorgt, betrat er im
Jahre 1827 zum ersten Male mit einem fünfactigeu Lustspiel, "Is maria^s ä'ar-
Kent" das Idöirl.rs twuyals. Im Jahr 1835 nahm ihn die Akademie auf, und
er gehört seitdem zu deu anerkannten Dichtern der Nation, obgleich er niemals
ein Stück in Versen geschrieben hat. In der Uebersicht seiner Werke gehen wir
zuerst vou dem weniger bekannten Theil derselben ans, von seinen Romanen.

Von diesen, welche mir insofern in Betracht kommen, als sich daraus Ana¬
logien für die Conception der Theaterstücke ziehen lassen, ist der längste Piquillo
Alliaga, eine Geschichte ans dem Zeitalter Philipp's III. von Spanien, welche in
nenn Bänden die Verfolgung der Mauren erzählt. Sie ist in Beziehung auf
die Composition ziemlich liederlich gearbeitet, weiß aber doch sehr geschickt durch
eine unzählige Masse handelnder und leidender Figuren das Interesse des Publi-
cums in Spannung zu halten, und gibt wenigstens einige recht scharfe und pikante
Charakteristiken. Ein zweiter Roman, Carlo Broschi, der das Leben des be¬
kannten Kastraten Farinelli behandelt, geht ans eine sehr ungesunde Pointe ans
und ist auch sonst ohne erheblichen Werth. Besser sind die Novellen, die in der
Gegenwart spielen; darunter namentlich Maurice und oris maitresse anonyme.
Die letztere Novelle ist in Beziehung auf den Gegenstand eine der frechsten, welche
die neufrauzösische Literatur auszuweisen hat; und doch ist die Behandlung des
cynischen Stoffes so naiv, unbefangen und dabei fein gehalten, daß von einer
eigentlichen Unsittlichkeit nicht die Rede ist. Ich will mich aber doch hüten, den
Stoff zu erzählen.

Wenn wir die zahllosen Vaudevilles überblicken, mit denen Scribe das
Theater beschenkt hat, so wird es schwer, eine allgemeine Charakteristik davon
zu gebe". Doch kann man sie wenigstens in zwei Classen eintheilen. Die erste,
wozu die meisten der frühern Vaudevilles gehören, ist in der Regel nichts weiter, als
ein pikanter Einfall, der durch vorher eingeschobene Scenen einigermaßen moti-
virt wird; satyrische oder auch harmlose Genrebilder ans dem Pariser Leben.
-Es wird die Zigcnnerwirthschast der Künstler, des Militärs, der Philister aus


nützen Beiwerks, eine sehr große Leichtfertigkeit in dem Fortschritt der Hand-
lung und eine Komik, die nach nnserm Geschmack zu stark aufgetragen ist.
Beaumarchais war für seine Zeit von unglaublicher Wichtigkeit, aber seine
Lustspiele siud doch so breit angelegt, daß man den Auszug, der in der
Oper daraus gemacht ist, als einen dramatischen Fortschritt anerkennen
muß, ungefähr wie in deu spätern Ausgaben der Göthe'schen Operetten ein
Fortschritt gegen die frühern liegt. In Scribe's Werken dagegen findet man
eine nicht geringe Zahl kleinerer und größerer Lustspiele, die man geradezu als
mustergültig aufstellen kann.

Scribe's erstes Vaudeville, „der Derwisch," erschien im Jahre 1811. Er
war damals 20 Jahre alt. Nachdem er eine Reihe von Jahren hindurch das
Gymnase und andere Vaudevillcthcater fast ausschließlich versorgt, betrat er im
Jahre 1827 zum ersten Male mit einem fünfactigeu Lustspiel, „Is maria^s ä'ar-
Kent" das Idöirl.rs twuyals. Im Jahr 1835 nahm ihn die Akademie auf, und
er gehört seitdem zu deu anerkannten Dichtern der Nation, obgleich er niemals
ein Stück in Versen geschrieben hat. In der Uebersicht seiner Werke gehen wir
zuerst vou dem weniger bekannten Theil derselben ans, von seinen Romanen.

Von diesen, welche mir insofern in Betracht kommen, als sich daraus Ana¬
logien für die Conception der Theaterstücke ziehen lassen, ist der längste Piquillo
Alliaga, eine Geschichte ans dem Zeitalter Philipp's III. von Spanien, welche in
nenn Bänden die Verfolgung der Mauren erzählt. Sie ist in Beziehung auf
die Composition ziemlich liederlich gearbeitet, weiß aber doch sehr geschickt durch
eine unzählige Masse handelnder und leidender Figuren das Interesse des Publi-
cums in Spannung zu halten, und gibt wenigstens einige recht scharfe und pikante
Charakteristiken. Ein zweiter Roman, Carlo Broschi, der das Leben des be¬
kannten Kastraten Farinelli behandelt, geht ans eine sehr ungesunde Pointe ans
und ist auch sonst ohne erheblichen Werth. Besser sind die Novellen, die in der
Gegenwart spielen; darunter namentlich Maurice und oris maitresse anonyme.
Die letztere Novelle ist in Beziehung auf den Gegenstand eine der frechsten, welche
die neufrauzösische Literatur auszuweisen hat; und doch ist die Behandlung des
cynischen Stoffes so naiv, unbefangen und dabei fein gehalten, daß von einer
eigentlichen Unsittlichkeit nicht die Rede ist. Ich will mich aber doch hüten, den
Stoff zu erzählen.

Wenn wir die zahllosen Vaudevilles überblicken, mit denen Scribe das
Theater beschenkt hat, so wird es schwer, eine allgemeine Charakteristik davon
zu gebe». Doch kann man sie wenigstens in zwei Classen eintheilen. Die erste,
wozu die meisten der frühern Vaudevilles gehören, ist in der Regel nichts weiter, als
ein pikanter Einfall, der durch vorher eingeschobene Scenen einigermaßen moti-
virt wird; satyrische oder auch harmlose Genrebilder ans dem Pariser Leben.
-Es wird die Zigcnnerwirthschast der Künstler, des Militärs, der Philister aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/14>, abgerufen am 27.07.2024.