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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Interesses, das individuelle Leben, abgeht. Das Genie allein, das alles vermögende,
vermag sie uns erträglich zu machen. Manche von den Allegorien, die Cornelius in
die Fresken der Münchner Glyptothek verwebt hat, mochten außerhalb der Grenzen
der bildenden K""se liegen; aber wer ist im Stande, bei der Betrachtung dieses über-
schwänglichen Reichthums die Berechtigung jedes einzelnen Gegenstandes abzuwägen?
Wir vergessen die Kunstunmöglichkeit des Dargestellte", wenn wir mit einer Fülle
neuer geistvoller und anmuthiger Erfindungen überschüttet werden. Dies ist bei
den Kißscheu Allegorien nicht der Fall. Die vier Tugenden siud weibliche Figuren
in entsprechenden Stellungen theils mit den bekannten, theils mit zweckmäßig
modificirten Attributen; die Abundantia hat die Attribute der alten Städtegöt-
tinuen, Mauerkrone, Füllhorn und Eichenzweig; die Borussia ist eine Art Minerva
in mittelalterlicher Rüstung, statt der Aegide trägt sie ein bis aus die Knie her--
abreichcndes Kcttcnpanzerhemd, auf der Brust und am Helm den Adler. Mit
Ausnahme der Borussia, die als Tochter der modernen Welt freilich nicht füglich
in die Tracht der alten gekleidet sein konnte, ist im Ganzen das herkömmliche
antike Costum beobachtet (bei der Abundantia und der Weisheit siud bekannte
Motive antiker Gewandfiguren benutzt); uur die Liebe ehrt ein modernisirtcs Costum.
Zu dieser Abweichung ist kein Grund ersichtlich, und in conventionellen Dar¬
stellungen sollte man ohne Grund von der Convention auch in Nebendingen
nicht abweichen.

Sind nun diese allegorischen Figuren nicht der Art, daß sie durch geniale
überraschende Versinnlichung von Begriffen interessiren und fesseln können, so können
sie es durch Schönheit und Anmuth eben so wenig, und wenn man aus diesen
Frauengestalten allem zu schließen hätte, wäre die Befähigung des Künstlers zur
Bildung weiblicher Schönheit überhaupt für gering zu halten. Zum Theil kommt
wol die kalte harte Regelmäßigkeit der Köpfe ans Rechnung des Materials, das
zur Darstellung weiblicher Formen ungünstiger ist, als der transparente sanft¬
schimmernde Marmor. Das Gesicht der Weisheit ist wenigstens durch den Zug
des Sinnes, das des Glaubens durch die Ekstase des Gebets belebt, aber Bo¬
russia und Abundantia blicken auch für allegorische Figuren zu gleichgiltig, starr
und seelenlos vor sich hin. Auch die Liebe, die ein Kind auf dem Arme trägt,
das andere an der Hand sührt, hat kein individuelles Leben. Leider ist die an
Caricatur streifende Unförmlichkeit der Kinderköpfe mit aller Treue der Natur
nachgeahmt. Eine sehr anerkennenswerthe Ausnahme macht die Gerechtigkeit,
sie ist die gelungenste dieser Figuren, und in der That vortrefflich. Hier glaubt
man wieder zu empfinden, daß der Künstler sich mehr in seinem Elemente fühlte,
da er mit weiblichen Formen männliche Kraft in Haltung und Ausdruck verbinde"
durfte. Den linke" Fuß aus eine kleine Erhöhung gestellt, stützt sie mit der linke"
Hand das Buch des Gesetzes ans den Oberschenkel; die rechte hält den Griff des
auf den Boden gestemmten bloßen Schwerts nmfaß.t; ihre Gewänder sind in ein-


Interesses, das individuelle Leben, abgeht. Das Genie allein, das alles vermögende,
vermag sie uns erträglich zu machen. Manche von den Allegorien, die Cornelius in
die Fresken der Münchner Glyptothek verwebt hat, mochten außerhalb der Grenzen
der bildenden K»»se liegen; aber wer ist im Stande, bei der Betrachtung dieses über-
schwänglichen Reichthums die Berechtigung jedes einzelnen Gegenstandes abzuwägen?
Wir vergessen die Kunstunmöglichkeit des Dargestellte», wenn wir mit einer Fülle
neuer geistvoller und anmuthiger Erfindungen überschüttet werden. Dies ist bei
den Kißscheu Allegorien nicht der Fall. Die vier Tugenden siud weibliche Figuren
in entsprechenden Stellungen theils mit den bekannten, theils mit zweckmäßig
modificirten Attributen; die Abundantia hat die Attribute der alten Städtegöt-
tinuen, Mauerkrone, Füllhorn und Eichenzweig; die Borussia ist eine Art Minerva
in mittelalterlicher Rüstung, statt der Aegide trägt sie ein bis aus die Knie her--
abreichcndes Kcttcnpanzerhemd, auf der Brust und am Helm den Adler. Mit
Ausnahme der Borussia, die als Tochter der modernen Welt freilich nicht füglich
in die Tracht der alten gekleidet sein konnte, ist im Ganzen das herkömmliche
antike Costum beobachtet (bei der Abundantia und der Weisheit siud bekannte
Motive antiker Gewandfiguren benutzt); uur die Liebe ehrt ein modernisirtcs Costum.
Zu dieser Abweichung ist kein Grund ersichtlich, und in conventionellen Dar¬
stellungen sollte man ohne Grund von der Convention auch in Nebendingen
nicht abweichen.

Sind nun diese allegorischen Figuren nicht der Art, daß sie durch geniale
überraschende Versinnlichung von Begriffen interessiren und fesseln können, so können
sie es durch Schönheit und Anmuth eben so wenig, und wenn man aus diesen
Frauengestalten allem zu schließen hätte, wäre die Befähigung des Künstlers zur
Bildung weiblicher Schönheit überhaupt für gering zu halten. Zum Theil kommt
wol die kalte harte Regelmäßigkeit der Köpfe ans Rechnung des Materials, das
zur Darstellung weiblicher Formen ungünstiger ist, als der transparente sanft¬
schimmernde Marmor. Das Gesicht der Weisheit ist wenigstens durch den Zug
des Sinnes, das des Glaubens durch die Ekstase des Gebets belebt, aber Bo¬
russia und Abundantia blicken auch für allegorische Figuren zu gleichgiltig, starr
und seelenlos vor sich hin. Auch die Liebe, die ein Kind auf dem Arme trägt,
das andere an der Hand sührt, hat kein individuelles Leben. Leider ist die an
Caricatur streifende Unförmlichkeit der Kinderköpfe mit aller Treue der Natur
nachgeahmt. Eine sehr anerkennenswerthe Ausnahme macht die Gerechtigkeit,
sie ist die gelungenste dieser Figuren, und in der That vortrefflich. Hier glaubt
man wieder zu empfinden, daß der Künstler sich mehr in seinem Elemente fühlte,
da er mit weiblichen Formen männliche Kraft in Haltung und Ausdruck verbinde»
durfte. Den linke» Fuß aus eine kleine Erhöhung gestellt, stützt sie mit der linke»
Hand das Buch des Gesetzes ans den Oberschenkel; die rechte hält den Griff des
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[0326] Interesses, das individuelle Leben, abgeht. Das Genie allein, das alles vermögende, vermag sie uns erträglich zu machen. Manche von den Allegorien, die Cornelius in die Fresken der Münchner Glyptothek verwebt hat, mochten außerhalb der Grenzen der bildenden K»»se liegen; aber wer ist im Stande, bei der Betrachtung dieses über- schwänglichen Reichthums die Berechtigung jedes einzelnen Gegenstandes abzuwägen? Wir vergessen die Kunstunmöglichkeit des Dargestellte», wenn wir mit einer Fülle neuer geistvoller und anmuthiger Erfindungen überschüttet werden. Dies ist bei den Kißscheu Allegorien nicht der Fall. Die vier Tugenden siud weibliche Figuren in entsprechenden Stellungen theils mit den bekannten, theils mit zweckmäßig modificirten Attributen; die Abundantia hat die Attribute der alten Städtegöt- tinuen, Mauerkrone, Füllhorn und Eichenzweig; die Borussia ist eine Art Minerva in mittelalterlicher Rüstung, statt der Aegide trägt sie ein bis aus die Knie her-- abreichcndes Kcttcnpanzerhemd, auf der Brust und am Helm den Adler. Mit Ausnahme der Borussia, die als Tochter der modernen Welt freilich nicht füglich in die Tracht der alten gekleidet sein konnte, ist im Ganzen das herkömmliche antike Costum beobachtet (bei der Abundantia und der Weisheit siud bekannte Motive antiker Gewandfiguren benutzt); uur die Liebe ehrt ein modernisirtcs Costum. Zu dieser Abweichung ist kein Grund ersichtlich, und in conventionellen Dar¬ stellungen sollte man ohne Grund von der Convention auch in Nebendingen nicht abweichen. Sind nun diese allegorischen Figuren nicht der Art, daß sie durch geniale überraschende Versinnlichung von Begriffen interessiren und fesseln können, so können sie es durch Schönheit und Anmuth eben so wenig, und wenn man aus diesen Frauengestalten allem zu schließen hätte, wäre die Befähigung des Künstlers zur Bildung weiblicher Schönheit überhaupt für gering zu halten. Zum Theil kommt wol die kalte harte Regelmäßigkeit der Köpfe ans Rechnung des Materials, das zur Darstellung weiblicher Formen ungünstiger ist, als der transparente sanft¬ schimmernde Marmor. Das Gesicht der Weisheit ist wenigstens durch den Zug des Sinnes, das des Glaubens durch die Ekstase des Gebets belebt, aber Bo¬ russia und Abundantia blicken auch für allegorische Figuren zu gleichgiltig, starr und seelenlos vor sich hin. Auch die Liebe, die ein Kind auf dem Arme trägt, das andere an der Hand sührt, hat kein individuelles Leben. Leider ist die an Caricatur streifende Unförmlichkeit der Kinderköpfe mit aller Treue der Natur nachgeahmt. Eine sehr anerkennenswerthe Ausnahme macht die Gerechtigkeit, sie ist die gelungenste dieser Figuren, und in der That vortrefflich. Hier glaubt man wieder zu empfinden, daß der Künstler sich mehr in seinem Elemente fühlte, da er mit weiblichen Formen männliche Kraft in Haltung und Ausdruck verbinde» durfte. Den linke» Fuß aus eine kleine Erhöhung gestellt, stützt sie mit der linke» Hand das Buch des Gesetzes ans den Oberschenkel; die rechte hält den Griff des auf den Boden gestemmten bloßen Schwerts nmfaß.t; ihre Gewänder sind in ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/326>, abgerufen am 23.07.2024.