Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

schaften tritt er stets nnr um ein Weniges heraus; er hat daher weit weniger
Mannichfaltigkeit, als andere Komponisten; aber Alles, was er giebt, befriedigt
stets, weil es in sich selbst gesund und rein ist. Für Bach hat T. noch nicht die
Begeisterung, die in der neuesten Zeit allgemein geworden ist. Er bedauert we¬
nigstens, daß Bach seiner Neigung zum Figurirteu allzuviel nachgegeben habe;
er meint, daß man vor seiner Herrlichkeit niederfallen möchte, wenn er in aller
Einfalt einherschreitet. Daraus geht aber hervor, daß Bach für ihn von der
Seite her zugänglich war, die den Neuere" gerade die am Wenigsten interes¬
sante ist.

Eine bestimmte Antwort ans die Frage, wie es nnn mit der Reinheit der
Tonkunst zu halte" sei, erhält man bei Thibaut nicht. Namentlich was die Oper
betrifft, läßt sich gar nicht absehen, wie weit der Componist nach Thibaut'ö Grund¬
sätzen die Schranken des Lyrischen durchbrechen dürfe.

Der Begriff der Reinheit, streng gefaßt, kann nur der des absolute" Gleich¬
gewichts sein. Nun ist es aber nicht möglich, für keinen Augenblick aus diesem Zu¬
stande des Gleichgewichts herauszutreten. Der tonische Dreiklang ist musikalisch
der Träger des Gleichgewichts; von ihm geht die Bewegung nach de" verschieden¬
sten Seiten hinaus, und kehrt in ihn wieder zurück; jeder Schritt, deu wir aus
ihm heraus thun, hebt für diesen Moment das Gleichgewicht aus. Wir stellen das
Gleichgewicht her, indem wir in den tonischen Dreiklang wieder zurückkehren; aber
dennoch haben wir es gestört; denn während wir nach verschiedenen Seiten hin
ans ihm heraustreten konnten, haben wir das nnr nach einer Seite hin gethan;
damit ist also schon eine Einseitigkeit begangen worden, Diese Einseitigkeit muß
nun wieder aufgehoben werden. Das kleinste in sich vollendete Tonstück
würde in symmetrischer Weise ans dem tonischen Dreiklang, dem Dreiklang der
Dominaute nud dem der Subdominante beruhen. Nun kann man aber bis ins
Unendliche hin sich von der ursprünglichen Grundlage der Tonkunst, dem tonischen
Dreiklang, entfernen. Gesetzt, Jemand hätte die Fähigkeit, sehr weit abzuschwei¬
fen, aber nach allen möglichen Seiten hin gleichweit abzuschweifen und Schritt
für Schritt in den tonischen Dreiklang zurückzukehren, so daß das Ganze etwas
absolut symmetrisches wäre, so wurde mau ihm doch unmöglich den Borwurs
machen können, sein Werk sei nicht rein, und dennoch würden vielleicht Einzelne
durch Einzelnes, was ihnen zu entlegen ist, verletzt werden. Dies führt uns auf
einen andern für die Bestimmung des Begriffs der Reinheit wichtigen Punkt.
So wie einige Menschen sich sehr extremen Richtungen hingeben können, ohne im
Ganzen das Gleichgewicht zu verlieren, andere nicht, so ist es auch in den Kün¬
sten. Die persönliche Kraft ist ein entscheidendes Moment für den Grad, bis zu
dem wir uns aus der ruhigen Gleichgiltigkeit des tonischen Dreiklangs entfer¬
nen dürfen. Die Kraft wird aber geübt und gestärkt. Die Künste haben mit
Nothwendigkeit dieselbe Entwickelung, die der einzelne Mensch hat, daß sie näm-
"''


j>

schaften tritt er stets nnr um ein Weniges heraus; er hat daher weit weniger
Mannichfaltigkeit, als andere Komponisten; aber Alles, was er giebt, befriedigt
stets, weil es in sich selbst gesund und rein ist. Für Bach hat T. noch nicht die
Begeisterung, die in der neuesten Zeit allgemein geworden ist. Er bedauert we¬
nigstens, daß Bach seiner Neigung zum Figurirteu allzuviel nachgegeben habe;
er meint, daß man vor seiner Herrlichkeit niederfallen möchte, wenn er in aller
Einfalt einherschreitet. Daraus geht aber hervor, daß Bach für ihn von der
Seite her zugänglich war, die den Neuere» gerade die am Wenigsten interes¬
sante ist.

Eine bestimmte Antwort ans die Frage, wie es nnn mit der Reinheit der
Tonkunst zu halte» sei, erhält man bei Thibaut nicht. Namentlich was die Oper
betrifft, läßt sich gar nicht absehen, wie weit der Componist nach Thibaut'ö Grund¬
sätzen die Schranken des Lyrischen durchbrechen dürfe.

Der Begriff der Reinheit, streng gefaßt, kann nur der des absolute» Gleich¬
gewichts sein. Nun ist es aber nicht möglich, für keinen Augenblick aus diesem Zu¬
stande des Gleichgewichts herauszutreten. Der tonische Dreiklang ist musikalisch
der Träger des Gleichgewichts; von ihm geht die Bewegung nach de» verschieden¬
sten Seiten hinaus, und kehrt in ihn wieder zurück; jeder Schritt, deu wir aus
ihm heraus thun, hebt für diesen Moment das Gleichgewicht aus. Wir stellen das
Gleichgewicht her, indem wir in den tonischen Dreiklang wieder zurückkehren; aber
dennoch haben wir es gestört; denn während wir nach verschiedenen Seiten hin
ans ihm heraustreten konnten, haben wir das nnr nach einer Seite hin gethan;
damit ist also schon eine Einseitigkeit begangen worden, Diese Einseitigkeit muß
nun wieder aufgehoben werden. Das kleinste in sich vollendete Tonstück
würde in symmetrischer Weise ans dem tonischen Dreiklang, dem Dreiklang der
Dominaute nud dem der Subdominante beruhen. Nun kann man aber bis ins
Unendliche hin sich von der ursprünglichen Grundlage der Tonkunst, dem tonischen
Dreiklang, entfernen. Gesetzt, Jemand hätte die Fähigkeit, sehr weit abzuschwei¬
fen, aber nach allen möglichen Seiten hin gleichweit abzuschweifen und Schritt
für Schritt in den tonischen Dreiklang zurückzukehren, so daß das Ganze etwas
absolut symmetrisches wäre, so wurde mau ihm doch unmöglich den Borwurs
machen können, sein Werk sei nicht rein, und dennoch würden vielleicht Einzelne
durch Einzelnes, was ihnen zu entlegen ist, verletzt werden. Dies führt uns auf
einen andern für die Bestimmung des Begriffs der Reinheit wichtigen Punkt.
So wie einige Menschen sich sehr extremen Richtungen hingeben können, ohne im
Ganzen das Gleichgewicht zu verlieren, andere nicht, so ist es auch in den Kün¬
sten. Die persönliche Kraft ist ein entscheidendes Moment für den Grad, bis zu
dem wir uns aus der ruhigen Gleichgiltigkeit des tonischen Dreiklangs entfer¬
nen dürfen. Die Kraft wird aber geübt und gestärkt. Die Künste haben mit
Nothwendigkeit dieselbe Entwickelung, die der einzelne Mensch hat, daß sie näm-
"''


j>
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0031" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/280648"/>
          <p xml:id="ID_74" prev="#ID_73"> schaften tritt er stets nnr um ein Weniges heraus; er hat daher weit weniger<lb/>
Mannichfaltigkeit, als andere Komponisten; aber Alles, was er giebt, befriedigt<lb/>
stets, weil es in sich selbst gesund und rein ist. Für Bach hat T. noch nicht die<lb/>
Begeisterung, die in der neuesten Zeit allgemein geworden ist. Er bedauert we¬<lb/>
nigstens, daß Bach seiner Neigung zum Figurirteu allzuviel nachgegeben habe;<lb/>
er meint, daß man vor seiner Herrlichkeit niederfallen möchte, wenn er in aller<lb/>
Einfalt einherschreitet. Daraus geht aber hervor, daß Bach für ihn von der<lb/>
Seite her zugänglich war, die den Neuere» gerade die am Wenigsten interes¬<lb/>
sante ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_75"> Eine bestimmte Antwort ans die Frage, wie es nnn mit der Reinheit der<lb/>
Tonkunst zu halte» sei, erhält man bei Thibaut nicht. Namentlich was die Oper<lb/>
betrifft, läßt sich gar nicht absehen, wie weit der Componist nach Thibaut'ö Grund¬<lb/>
sätzen die Schranken des Lyrischen durchbrechen dürfe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_76" next="#ID_77"> Der Begriff der Reinheit, streng gefaßt, kann nur der des absolute» Gleich¬<lb/>
gewichts sein. Nun ist es aber nicht möglich, für keinen Augenblick aus diesem Zu¬<lb/>
stande des Gleichgewichts herauszutreten. Der tonische Dreiklang ist musikalisch<lb/>
der Träger des Gleichgewichts; von ihm geht die Bewegung nach de» verschieden¬<lb/>
sten Seiten hinaus, und kehrt in ihn wieder zurück; jeder Schritt, deu wir aus<lb/>
ihm heraus thun, hebt für diesen Moment das Gleichgewicht aus. Wir stellen das<lb/>
Gleichgewicht her, indem wir in den tonischen Dreiklang wieder zurückkehren; aber<lb/>
dennoch haben wir es gestört; denn während wir nach verschiedenen Seiten hin<lb/>
ans ihm heraustreten konnten, haben wir das nnr nach einer Seite hin gethan;<lb/>
damit ist also schon eine Einseitigkeit begangen worden, Diese Einseitigkeit muß<lb/>
nun wieder aufgehoben werden. Das kleinste in sich vollendete Tonstück<lb/>
würde in symmetrischer Weise ans dem tonischen Dreiklang, dem Dreiklang der<lb/>
Dominaute nud dem der Subdominante beruhen. Nun kann man aber bis ins<lb/>
Unendliche hin sich von der ursprünglichen Grundlage der Tonkunst, dem tonischen<lb/>
Dreiklang, entfernen. Gesetzt, Jemand hätte die Fähigkeit, sehr weit abzuschwei¬<lb/>
fen, aber nach allen möglichen Seiten hin gleichweit abzuschweifen und Schritt<lb/>
für Schritt in den tonischen Dreiklang zurückzukehren, so daß das Ganze etwas<lb/>
absolut symmetrisches wäre, so wurde mau ihm doch unmöglich den Borwurs<lb/>
machen können, sein Werk sei nicht rein, und dennoch würden vielleicht Einzelne<lb/>
durch Einzelnes, was ihnen zu entlegen ist, verletzt werden. Dies führt uns auf<lb/>
einen andern für die Bestimmung des Begriffs der Reinheit wichtigen Punkt.<lb/>
So wie einige Menschen sich sehr extremen Richtungen hingeben können, ohne im<lb/>
Ganzen das Gleichgewicht zu verlieren, andere nicht, so ist es auch in den Kün¬<lb/>
sten. Die persönliche Kraft ist ein entscheidendes Moment für den Grad, bis zu<lb/>
dem wir uns aus der ruhigen Gleichgiltigkeit des tonischen Dreiklangs entfer¬<lb/>
nen dürfen. Die Kraft wird aber geübt und gestärkt. Die Künste haben mit<lb/>
Nothwendigkeit dieselbe Entwickelung, die der einzelne Mensch hat, daß sie näm-<lb/>
"''</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> j&gt;</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0031] schaften tritt er stets nnr um ein Weniges heraus; er hat daher weit weniger Mannichfaltigkeit, als andere Komponisten; aber Alles, was er giebt, befriedigt stets, weil es in sich selbst gesund und rein ist. Für Bach hat T. noch nicht die Begeisterung, die in der neuesten Zeit allgemein geworden ist. Er bedauert we¬ nigstens, daß Bach seiner Neigung zum Figurirteu allzuviel nachgegeben habe; er meint, daß man vor seiner Herrlichkeit niederfallen möchte, wenn er in aller Einfalt einherschreitet. Daraus geht aber hervor, daß Bach für ihn von der Seite her zugänglich war, die den Neuere» gerade die am Wenigsten interes¬ sante ist. Eine bestimmte Antwort ans die Frage, wie es nnn mit der Reinheit der Tonkunst zu halte» sei, erhält man bei Thibaut nicht. Namentlich was die Oper betrifft, läßt sich gar nicht absehen, wie weit der Componist nach Thibaut'ö Grund¬ sätzen die Schranken des Lyrischen durchbrechen dürfe. Der Begriff der Reinheit, streng gefaßt, kann nur der des absolute» Gleich¬ gewichts sein. Nun ist es aber nicht möglich, für keinen Augenblick aus diesem Zu¬ stande des Gleichgewichts herauszutreten. Der tonische Dreiklang ist musikalisch der Träger des Gleichgewichts; von ihm geht die Bewegung nach de» verschieden¬ sten Seiten hinaus, und kehrt in ihn wieder zurück; jeder Schritt, deu wir aus ihm heraus thun, hebt für diesen Moment das Gleichgewicht aus. Wir stellen das Gleichgewicht her, indem wir in den tonischen Dreiklang wieder zurückkehren; aber dennoch haben wir es gestört; denn während wir nach verschiedenen Seiten hin ans ihm heraustreten konnten, haben wir das nnr nach einer Seite hin gethan; damit ist also schon eine Einseitigkeit begangen worden, Diese Einseitigkeit muß nun wieder aufgehoben werden. Das kleinste in sich vollendete Tonstück würde in symmetrischer Weise ans dem tonischen Dreiklang, dem Dreiklang der Dominaute nud dem der Subdominante beruhen. Nun kann man aber bis ins Unendliche hin sich von der ursprünglichen Grundlage der Tonkunst, dem tonischen Dreiklang, entfernen. Gesetzt, Jemand hätte die Fähigkeit, sehr weit abzuschwei¬ fen, aber nach allen möglichen Seiten hin gleichweit abzuschweifen und Schritt für Schritt in den tonischen Dreiklang zurückzukehren, so daß das Ganze etwas absolut symmetrisches wäre, so wurde mau ihm doch unmöglich den Borwurs machen können, sein Werk sei nicht rein, und dennoch würden vielleicht Einzelne durch Einzelnes, was ihnen zu entlegen ist, verletzt werden. Dies führt uns auf einen andern für die Bestimmung des Begriffs der Reinheit wichtigen Punkt. So wie einige Menschen sich sehr extremen Richtungen hingeben können, ohne im Ganzen das Gleichgewicht zu verlieren, andere nicht, so ist es auch in den Kün¬ sten. Die persönliche Kraft ist ein entscheidendes Moment für den Grad, bis zu dem wir uns aus der ruhigen Gleichgiltigkeit des tonischen Dreiklangs entfer¬ nen dürfen. Die Kraft wird aber geübt und gestärkt. Die Künste haben mit Nothwendigkeit dieselbe Entwickelung, die der einzelne Mensch hat, daß sie näm- "'' j>

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/31
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/31>, abgerufen am 23.07.2024.