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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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von der engherzigen und gedankenlosen Tyrannei, der damals der größere Theil
des Kontinents verfallen war. Es war kein weiterer Grund dafür vorhanden,
als daß jede Anerkennung einer volkstümlichen Individualität, die in ihren Em¬
pfindungen und in ihrem Denken autonom zu sein wagte, als ein Majestätsver-
brechen gegen das nivellirende Weltreich angesehen wurde, welches der französische
Eroberer aufzurichten sich vermaß. Das Buch hat in der französischen Literatur
Epoche gemacht. Es hat den Franzosen ein Bild von einem ihnen bisher gleich-
giltigen Volk vorgeführt, welches sich sehr bald in ein Ideal oder einen Mythus
verwandelte, und in kurzer Zeit die wesentlichste Rückwirkung auf ihre eigene
Literatur auszuüben berufen war. Mau fühlte instinctmäßig heraus, daß die
Befreiung des deutschen Volkes von dem Joch des Weltherrschcrs zugleich die
Befreiung des lebendigen Frankreich von dem Joch einer einseitigen Abstraction
>var. In dieser Beziehung erscheint Frau v. Staöl als die eigentliche Begrün¬
derin der spätem romantischen Schule. Wir Deutsche können aus jenem Buche
weniger lernen. An eine erschöpfende und gründliche Untersuchung unsrer Lite¬
ratur ist bei einer auch noch so geistreichen Frau kaum zu denken, und die hervor-
Ipringenden Züge, die sie combinirt, find zu sichtlich auf die Eigenthümlichkeit
des französischen Publicums bezogen. Außerdem war das Medium, durch wel¬
kes sie die deutsche Literatur ansah, doch immer ein trübes, mit wie hellen Augen
ste auch durchzublicken strebte, und wenn der Einfluß Schlegels auch nicht so
Üwß war, als man zuweilen geglaubt hat, so war er doch immer groß genug,
>"n die Perspectiven zu verwirren.

Ihre Erbitterung über die Unterdrückung dieses Buchs war sehr groß, und
°as hatte einen entschiedenen Einfluß auf ihre späteren Schriften, zunächst auf
gleichzeitig erscheinende Buch: Lssai 8ur !<> suleiüe. Es ist noch eine andere
Trauer, die sich in demselben ausspricht, über den Verlust ihrer Jugend, der anch
^ ihre poetische Empfänglichkeit nicht verfehlte seinen Einfluß auszuüben. Sie
hatte sich in jener Zeit mit einem französischen Officier, Namens Rocccr, verhei-
^thet, die Heirath wurde aber nicht publicirt. Im Jahre 1812 verließ sie Cop-
^t, und begaun eine unruhige Wanderung durch die verschiedenen Hauptstädte
Uropa's. Sie kam nach Wien, Moskau, Se. Petersburg, Stockholm, wo ihr
Engster Sohn im Duell blieb, und wo sie ihre Schrift: "Zehn Jahre der Ver¬
bannung" veröffentlichte, bis endlich die zweite Restauration sie nach dem ersehnten
^ris zurückrief. Hier sammelte sich sogleich wieder um sie ein Kreis liberaler
Staatsmänner, die gegen die ausschweifenden Ncactionögelüste des neuen Hofes
Opposition machten; aber ihre Rolle dauerte nicht lauge. Sie starb am 14.
>Mi 1817, am Jahrestage der Erstürmung der Bastille. Eine hinterlassene Schrift:
^-"Mi-rations Evolution kranke wurde im folgenden Jahre veröffent-
^t. Zwar waltet in derselben, wie es bei einer Schriftstellerin zu erwarten ist,
Bestreben vor, die Außenseite der Dinge darzustellen und die Ereignisse


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von der engherzigen und gedankenlosen Tyrannei, der damals der größere Theil
des Kontinents verfallen war. Es war kein weiterer Grund dafür vorhanden,
als daß jede Anerkennung einer volkstümlichen Individualität, die in ihren Em¬
pfindungen und in ihrem Denken autonom zu sein wagte, als ein Majestätsver-
brechen gegen das nivellirende Weltreich angesehen wurde, welches der französische
Eroberer aufzurichten sich vermaß. Das Buch hat in der französischen Literatur
Epoche gemacht. Es hat den Franzosen ein Bild von einem ihnen bisher gleich-
giltigen Volk vorgeführt, welches sich sehr bald in ein Ideal oder einen Mythus
verwandelte, und in kurzer Zeit die wesentlichste Rückwirkung auf ihre eigene
Literatur auszuüben berufen war. Mau fühlte instinctmäßig heraus, daß die
Befreiung des deutschen Volkes von dem Joch des Weltherrschcrs zugleich die
Befreiung des lebendigen Frankreich von dem Joch einer einseitigen Abstraction
>var. In dieser Beziehung erscheint Frau v. Staöl als die eigentliche Begrün¬
derin der spätem romantischen Schule. Wir Deutsche können aus jenem Buche
weniger lernen. An eine erschöpfende und gründliche Untersuchung unsrer Lite¬
ratur ist bei einer auch noch so geistreichen Frau kaum zu denken, und die hervor-
Ipringenden Züge, die sie combinirt, find zu sichtlich auf die Eigenthümlichkeit
des französischen Publicums bezogen. Außerdem war das Medium, durch wel¬
kes sie die deutsche Literatur ansah, doch immer ein trübes, mit wie hellen Augen
ste auch durchzublicken strebte, und wenn der Einfluß Schlegels auch nicht so
Üwß war, als man zuweilen geglaubt hat, so war er doch immer groß genug,
>»n die Perspectiven zu verwirren.

Ihre Erbitterung über die Unterdrückung dieses Buchs war sehr groß, und
°as hatte einen entschiedenen Einfluß auf ihre späteren Schriften, zunächst auf
gleichzeitig erscheinende Buch: Lssai 8ur !<> suleiüe. Es ist noch eine andere
Trauer, die sich in demselben ausspricht, über den Verlust ihrer Jugend, der anch
^ ihre poetische Empfänglichkeit nicht verfehlte seinen Einfluß auszuüben. Sie
hatte sich in jener Zeit mit einem französischen Officier, Namens Rocccr, verhei-
^thet, die Heirath wurde aber nicht publicirt. Im Jahre 1812 verließ sie Cop-
^t, und begaun eine unruhige Wanderung durch die verschiedenen Hauptstädte
Uropa's. Sie kam nach Wien, Moskau, Se. Petersburg, Stockholm, wo ihr
Engster Sohn im Duell blieb, und wo sie ihre Schrift: „Zehn Jahre der Ver¬
bannung" veröffentlichte, bis endlich die zweite Restauration sie nach dem ersehnten
^ris zurückrief. Hier sammelte sich sogleich wieder um sie ein Kreis liberaler
Staatsmänner, die gegen die ausschweifenden Ncactionögelüste des neuen Hofes
Opposition machten; aber ihre Rolle dauerte nicht lauge. Sie starb am 14.
>Mi 1817, am Jahrestage der Erstürmung der Bastille. Eine hinterlassene Schrift:
^-«Mi-rations Evolution kranke wurde im folgenden Jahre veröffent-
^t. Zwar waltet in derselben, wie es bei einer Schriftstellerin zu erwarten ist,
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[0301] von der engherzigen und gedankenlosen Tyrannei, der damals der größere Theil des Kontinents verfallen war. Es war kein weiterer Grund dafür vorhanden, als daß jede Anerkennung einer volkstümlichen Individualität, die in ihren Em¬ pfindungen und in ihrem Denken autonom zu sein wagte, als ein Majestätsver- brechen gegen das nivellirende Weltreich angesehen wurde, welches der französische Eroberer aufzurichten sich vermaß. Das Buch hat in der französischen Literatur Epoche gemacht. Es hat den Franzosen ein Bild von einem ihnen bisher gleich- giltigen Volk vorgeführt, welches sich sehr bald in ein Ideal oder einen Mythus verwandelte, und in kurzer Zeit die wesentlichste Rückwirkung auf ihre eigene Literatur auszuüben berufen war. Mau fühlte instinctmäßig heraus, daß die Befreiung des deutschen Volkes von dem Joch des Weltherrschcrs zugleich die Befreiung des lebendigen Frankreich von dem Joch einer einseitigen Abstraction >var. In dieser Beziehung erscheint Frau v. Staöl als die eigentliche Begrün¬ derin der spätem romantischen Schule. Wir Deutsche können aus jenem Buche weniger lernen. An eine erschöpfende und gründliche Untersuchung unsrer Lite¬ ratur ist bei einer auch noch so geistreichen Frau kaum zu denken, und die hervor- Ipringenden Züge, die sie combinirt, find zu sichtlich auf die Eigenthümlichkeit des französischen Publicums bezogen. Außerdem war das Medium, durch wel¬ kes sie die deutsche Literatur ansah, doch immer ein trübes, mit wie hellen Augen ste auch durchzublicken strebte, und wenn der Einfluß Schlegels auch nicht so Üwß war, als man zuweilen geglaubt hat, so war er doch immer groß genug, >»n die Perspectiven zu verwirren. Ihre Erbitterung über die Unterdrückung dieses Buchs war sehr groß, und °as hatte einen entschiedenen Einfluß auf ihre späteren Schriften, zunächst auf gleichzeitig erscheinende Buch: Lssai 8ur !<> suleiüe. Es ist noch eine andere Trauer, die sich in demselben ausspricht, über den Verlust ihrer Jugend, der anch ^ ihre poetische Empfänglichkeit nicht verfehlte seinen Einfluß auszuüben. Sie hatte sich in jener Zeit mit einem französischen Officier, Namens Rocccr, verhei- ^thet, die Heirath wurde aber nicht publicirt. Im Jahre 1812 verließ sie Cop- ^t, und begaun eine unruhige Wanderung durch die verschiedenen Hauptstädte Uropa's. Sie kam nach Wien, Moskau, Se. Petersburg, Stockholm, wo ihr Engster Sohn im Duell blieb, und wo sie ihre Schrift: „Zehn Jahre der Ver¬ bannung" veröffentlichte, bis endlich die zweite Restauration sie nach dem ersehnten ^ris zurückrief. Hier sammelte sich sogleich wieder um sie ein Kreis liberaler Staatsmänner, die gegen die ausschweifenden Ncactionögelüste des neuen Hofes Opposition machten; aber ihre Rolle dauerte nicht lauge. Sie starb am 14. >Mi 1817, am Jahrestage der Erstürmung der Bastille. Eine hinterlassene Schrift: ^-«Mi-rations Evolution kranke wurde im folgenden Jahre veröffent- ^t. Zwar waltet in derselben, wie es bei einer Schriftstellerin zu erwarten ist, Bestreben vor, die Außenseite der Dinge darzustellen und die Ereignisse ^reuzdvtcu, lV. IW-I, ^8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/301>, abgerufen am 23.07.2024.