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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Aber es sind doch Ausnahmen vorhanden, die in ihm ein bedeutendes Talent
erkennen lassen und ein Bedauern über seine verkehrte Richtung hervorrufe".
Zunächst in dem vierten Bande der vorliegenden Sammlung die beiden Erzäh¬
lungen : "Die Geschichte vom braven Kaöpevl und vom schönen Annerl" und "Die
mehreren Wehmüller nud die ungarischen Nativnalgesichler". Sie reihen sich
ebenbürtig in jenen Kreis vortrefflicher Erzählungen ein, die vielleicht das Ein¬
zige sind, was mir in Beziehung ans productive Leistungen der romantischen Schule
verdanken, jene Erzählungen von Arnim, Kleist, Hoffmann, Eichendorff, Leopold
Schefer u. s. w. Sie theilen mit ihnen die etwas mystische, nebelhafte Färbung,
die dem niederländisch ausgeführte" Detail einen romantischen Reiz verleiht. --
Die Geschichte vom Kasperl war zuerst in Fongnus "Musen" 18-12 abgedruckt;
sie hat ausnahmsweise einen sittlichen Inhalt: wie Kleist in seinem "Kvhl-
haas" die Ueberspannung deS Ncchtsgesühls, so hat Brentano die Ueber¬
treibung des Ehrgefühls als den Keim der Uebelthat dargestellt. Vielleicht drängt
sich diese Tendenz sogar etwas zu stark hervor, und stört die Unbefangenheit der
Erzählung. Dagegen ist der Volkston sehr glücklich getroffen, und die einzelnen
Figuren, wenn auch nur skizzirt, voll Leben und Interesse. Zwar graut auch hier
schon die unheimliche Nacht des Aberglaubens hinein: die Geschichte von dem
Schwert des Scharfrichters, welches nach dem Blut der kleinen Annerl dürstet,
und von dem Kopf des Hingerichteten, welcher sich im Herunterfliegen in ihre
Schürze einbeiße, ist sehr häßlich; anch fehlt es nicht an einzelnen scurrilcn Zügen,
die uns in unsrer Andacht stören. Allein das Alles ist doch immer so mäßig
Schatten, daß es uns vielleicht gar nicht befremden würde, wenn wir dabei nicht
die sonstige Thätigkeit des Dichters dächten, und es darf uns daher nicht ab¬
halten, das allgemeine Urtheil der Anerkennung über diese Novelle zu bestätige".
^ Die zweite Erzählmig ist el" in niederländischer Manier ausgeführtes humo¬
ristisches Genrebild von dem Leben in den ungarischen Grcnzdistricten. Ein Pest-
cvrdon treibt eine bunte Menge komischer Figuren in eine Hütte zusammen', sie
Wahlen sich die dem schlechten Wetter und der Nacht angemessene" Hexengcschichte",
zuweilen in ihrer tollen Laune Alles Äertreffen, was Hoffmaim geschrieben
bat, und werden zuletzt alle zu einem gemeinsame" Abenteuer vereinigt. Die
^mischen Ingredienzien dieser Erzählung sind alle ganz vortrefflich, von dem
^mira" Vo^osiMiru" und dem Kücheulatciu seiner Husaren bis zu der alten
Zigeunerin, die so friert, daß sie sich an einem langsamen Feuer mit Behagen Schmo¬
rr läßt, und bis zu dem Kater mit den, Dudelsack herunter. Brentano ist nur zu
listig, um diese Elemente so zu combinire", daß sie einen klaren Eindruck machen.
Man muß sich öfters besinnen, um uicht den Zusammenhang zu verlieren, wie
^ auch meistens bei Jean Paul der Fall ist. Außerdem ist die ausgelassene
Lustigkeit, die in der Erzählung herrscht, sehr weit von wirklicher Heiterkeit ent¬
fernt; Brentano schwankt immer nur zwischen den extremen Stimmungen. --


Aber es sind doch Ausnahmen vorhanden, die in ihm ein bedeutendes Talent
erkennen lassen und ein Bedauern über seine verkehrte Richtung hervorrufe».
Zunächst in dem vierten Bande der vorliegenden Sammlung die beiden Erzäh¬
lungen : „Die Geschichte vom braven Kaöpevl und vom schönen Annerl" und „Die
mehreren Wehmüller nud die ungarischen Nativnalgesichler". Sie reihen sich
ebenbürtig in jenen Kreis vortrefflicher Erzählungen ein, die vielleicht das Ein¬
zige sind, was mir in Beziehung ans productive Leistungen der romantischen Schule
verdanken, jene Erzählungen von Arnim, Kleist, Hoffmann, Eichendorff, Leopold
Schefer u. s. w. Sie theilen mit ihnen die etwas mystische, nebelhafte Färbung,
die dem niederländisch ausgeführte» Detail einen romantischen Reiz verleiht. --
Die Geschichte vom Kasperl war zuerst in Fongnus „Musen" 18-12 abgedruckt;
sie hat ausnahmsweise einen sittlichen Inhalt: wie Kleist in seinem „Kvhl-
haas" die Ueberspannung deS Ncchtsgesühls, so hat Brentano die Ueber¬
treibung des Ehrgefühls als den Keim der Uebelthat dargestellt. Vielleicht drängt
sich diese Tendenz sogar etwas zu stark hervor, und stört die Unbefangenheit der
Erzählung. Dagegen ist der Volkston sehr glücklich getroffen, und die einzelnen
Figuren, wenn auch nur skizzirt, voll Leben und Interesse. Zwar graut auch hier
schon die unheimliche Nacht des Aberglaubens hinein: die Geschichte von dem
Schwert des Scharfrichters, welches nach dem Blut der kleinen Annerl dürstet,
und von dem Kopf des Hingerichteten, welcher sich im Herunterfliegen in ihre
Schürze einbeiße, ist sehr häßlich; anch fehlt es nicht an einzelnen scurrilcn Zügen,
die uns in unsrer Andacht stören. Allein das Alles ist doch immer so mäßig
Schatten, daß es uns vielleicht gar nicht befremden würde, wenn wir dabei nicht
die sonstige Thätigkeit des Dichters dächten, und es darf uns daher nicht ab¬
halten, das allgemeine Urtheil der Anerkennung über diese Novelle zu bestätige».
^ Die zweite Erzählmig ist el» in niederländischer Manier ausgeführtes humo¬
ristisches Genrebild von dem Leben in den ungarischen Grcnzdistricten. Ein Pest-
cvrdon treibt eine bunte Menge komischer Figuren in eine Hütte zusammen', sie
Wahlen sich die dem schlechten Wetter und der Nacht angemessene» Hexengcschichte»,
zuweilen in ihrer tollen Laune Alles Äertreffen, was Hoffmaim geschrieben
bat, und werden zuletzt alle zu einem gemeinsame» Abenteuer vereinigt. Die
^mischen Ingredienzien dieser Erzählung sind alle ganz vortrefflich, von dem
^mira« Vo^osiMiru« und dem Kücheulatciu seiner Husaren bis zu der alten
Zigeunerin, die so friert, daß sie sich an einem langsamen Feuer mit Behagen Schmo¬
rr läßt, und bis zu dem Kater mit den, Dudelsack herunter. Brentano ist nur zu
listig, um diese Elemente so zu combinire», daß sie einen klaren Eindruck machen.
Man muß sich öfters besinnen, um uicht den Zusammenhang zu verlieren, wie
^ auch meistens bei Jean Paul der Fall ist. Außerdem ist die ausgelassene
Lustigkeit, die in der Erzählung herrscht, sehr weit von wirklicher Heiterkeit ent¬
fernt; Brentano schwankt immer nur zwischen den extremen Stimmungen. —


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/207>, abgerufen am 24.07.2024.