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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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eines unaufhaltsamen Verfalles, Wenig hilft hier sogenannte Regeneriruug ver¬
rotteter Staatsformen, reformatorisches Flickwerk, welches die klaffenden Risse küm¬
merlich zudeckt.

Und wendet man das Auge suchend nach dem letzten Hoffnungsschimmer der
Erhaltung, der Lebenskraft des Volkes, d. h. des herrschenden Stammes, zu, so
trifft der Blick uur schlafsüchtigen Taumel und cutuervtcs Dahinbrüten mit alle"
Keimen und Zeichen noch vor dem Tode eingetretener Verwesung. Es ist dann
nicht mehr die Frage der Zertrümmerung oder Forterhaltung eines weiten Rei¬
ches, die unsre Aufmerksamkeit fesselt, sondern die geistige und körperliche Ver¬
nichtung eiuer ganzen, groß gewesenen Nation, ein langes, langes Ringen mit dein
Untergange, der langsam, aber unaufhaltsam sich vorbereitet, während ein unerbitt¬
liches Schicksal seine Opfer zu zwingen scheint, sich früher noch das eigene Grab
zu graben, und dann am Rande der Kluft stumpfsinnig dem Vertilgungstage zu-
zuschwankeu, um endlich widerstandsunfähig den letzten Trost im gedankenlosen
HingcbnngSlaute zu finden: "Allah ist groß. Sein Wille geschehe."

Seit ein ganzes Volk den finsteren Mächten des Unterganges geweiht ist,
ward Vertheidigung das wenig ncidenswerthe Loos der türkischen Streitmacht;
Kniffe, Ausflüchte und raffinirtes Diplvmatisireu Ausdruck der osmanische"
Staatskunst. Stets unglücklich, in immer engere, doch immer noch zu weite
Grenzen zurückgedrückt, durch schlechte Verwaltung ausgesogen und verödet im
Innern, durch Verfall des frühern fanatischen Kriegergeistcs jedes Mittels der
Erhebung beraubt, sank Mohammeds und SvlimanS Hcrrschergesolge zum erbärm¬
lichen Schattenbildc früherer Macht und Größe herab.

Eigendünkel der Unwissenheit und Selbstüberschätzung, dieser Fluch eines i>o-
lirten Volkes, ist dem des türkischen Volksstammes tief eingewurzelt.

Viel hört und sieht man von fortschreitender Aufklärung, Volksbildung, wohl'
thätigen Reformen. Aufklärung in der Türkei! ...... Allerdings hat das immer
gewaltigere Drängen christlicher Macht und GesittnngSüberlegenheit den Lenkern
des Staats und etwa noch einigen höher gestellten Persönlichkeiten ein gewisses
demüthigendes Gefühl eigener Schwäche aufgedrungen und sie zur Nachahmung
angereizt; die Masse des Volkes aber entgeht durchaus diesem ohnehin uur gleißenden
Scheine, und ist, alle europäischen Nationen nach dem Musterbilde des schlauen
Armeniers, des abgefeimten Griechen, des betrügerischen Peroteu, des kriechende"
Juden u. f. w. beurtheilend, von der unermeßlichen Ueberlegenheit des eigenen
Stammes und der eigeuen Persönlichkeit eben so klar und unerschütterlich über¬
zeugt, wie von der Allmacht Gottes und der Unfehlbarkeit seines Propheten.-

Natürlich ist für jeden echten, d. h. strenggläubige" Türken erster GlaubcnS
grundsatz, daß seine Religion die einzig wahre und seligmachende, so wie daß
sein Padischa, als Nachfolger der weltgebictcnden Chalifen, sich mit Stolz und
Recht den König der Könige nennt. Erobert durch das glückliche Schwert kriege"-


eines unaufhaltsamen Verfalles, Wenig hilft hier sogenannte Regeneriruug ver¬
rotteter Staatsformen, reformatorisches Flickwerk, welches die klaffenden Risse küm¬
merlich zudeckt.

Und wendet man das Auge suchend nach dem letzten Hoffnungsschimmer der
Erhaltung, der Lebenskraft des Volkes, d. h. des herrschenden Stammes, zu, so
trifft der Blick uur schlafsüchtigen Taumel und cutuervtcs Dahinbrüten mit alle»
Keimen und Zeichen noch vor dem Tode eingetretener Verwesung. Es ist dann
nicht mehr die Frage der Zertrümmerung oder Forterhaltung eines weiten Rei¬
ches, die unsre Aufmerksamkeit fesselt, sondern die geistige und körperliche Ver¬
nichtung eiuer ganzen, groß gewesenen Nation, ein langes, langes Ringen mit dein
Untergange, der langsam, aber unaufhaltsam sich vorbereitet, während ein unerbitt¬
liches Schicksal seine Opfer zu zwingen scheint, sich früher noch das eigene Grab
zu graben, und dann am Rande der Kluft stumpfsinnig dem Vertilgungstage zu-
zuschwankeu, um endlich widerstandsunfähig den letzten Trost im gedankenlosen
HingcbnngSlaute zu finden: „Allah ist groß. Sein Wille geschehe."

Seit ein ganzes Volk den finsteren Mächten des Unterganges geweiht ist,
ward Vertheidigung das wenig ncidenswerthe Loos der türkischen Streitmacht;
Kniffe, Ausflüchte und raffinirtes Diplvmatisireu Ausdruck der osmanische»
Staatskunst. Stets unglücklich, in immer engere, doch immer noch zu weite
Grenzen zurückgedrückt, durch schlechte Verwaltung ausgesogen und verödet im
Innern, durch Verfall des frühern fanatischen Kriegergeistcs jedes Mittels der
Erhebung beraubt, sank Mohammeds und SvlimanS Hcrrschergesolge zum erbärm¬
lichen Schattenbildc früherer Macht und Größe herab.

Eigendünkel der Unwissenheit und Selbstüberschätzung, dieser Fluch eines i>o-
lirten Volkes, ist dem des türkischen Volksstammes tief eingewurzelt.

Viel hört und sieht man von fortschreitender Aufklärung, Volksbildung, wohl'
thätigen Reformen. Aufklärung in der Türkei! ...... Allerdings hat das immer
gewaltigere Drängen christlicher Macht und GesittnngSüberlegenheit den Lenkern
des Staats und etwa noch einigen höher gestellten Persönlichkeiten ein gewisses
demüthigendes Gefühl eigener Schwäche aufgedrungen und sie zur Nachahmung
angereizt; die Masse des Volkes aber entgeht durchaus diesem ohnehin uur gleißenden
Scheine, und ist, alle europäischen Nationen nach dem Musterbilde des schlauen
Armeniers, des abgefeimten Griechen, des betrügerischen Peroteu, des kriechende»
Juden u. f. w. beurtheilend, von der unermeßlichen Ueberlegenheit des eigenen
Stammes und der eigeuen Persönlichkeit eben so klar und unerschütterlich über¬
zeugt, wie von der Allmacht Gottes und der Unfehlbarkeit seines Propheten.-

Natürlich ist für jeden echten, d. h. strenggläubige« Türken erster GlaubcnS
grundsatz, daß seine Religion die einzig wahre und seligmachende, so wie daß
sein Padischa, als Nachfolger der weltgebictcnden Chalifen, sich mit Stolz und
Recht den König der Könige nennt. Erobert durch das glückliche Schwert kriege«-


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[0192] eines unaufhaltsamen Verfalles, Wenig hilft hier sogenannte Regeneriruug ver¬ rotteter Staatsformen, reformatorisches Flickwerk, welches die klaffenden Risse küm¬ merlich zudeckt. Und wendet man das Auge suchend nach dem letzten Hoffnungsschimmer der Erhaltung, der Lebenskraft des Volkes, d. h. des herrschenden Stammes, zu, so trifft der Blick uur schlafsüchtigen Taumel und cutuervtcs Dahinbrüten mit alle» Keimen und Zeichen noch vor dem Tode eingetretener Verwesung. Es ist dann nicht mehr die Frage der Zertrümmerung oder Forterhaltung eines weiten Rei¬ ches, die unsre Aufmerksamkeit fesselt, sondern die geistige und körperliche Ver¬ nichtung eiuer ganzen, groß gewesenen Nation, ein langes, langes Ringen mit dein Untergange, der langsam, aber unaufhaltsam sich vorbereitet, während ein unerbitt¬ liches Schicksal seine Opfer zu zwingen scheint, sich früher noch das eigene Grab zu graben, und dann am Rande der Kluft stumpfsinnig dem Vertilgungstage zu- zuschwankeu, um endlich widerstandsunfähig den letzten Trost im gedankenlosen HingcbnngSlaute zu finden: „Allah ist groß. Sein Wille geschehe." Seit ein ganzes Volk den finsteren Mächten des Unterganges geweiht ist, ward Vertheidigung das wenig ncidenswerthe Loos der türkischen Streitmacht; Kniffe, Ausflüchte und raffinirtes Diplvmatisireu Ausdruck der osmanische» Staatskunst. Stets unglücklich, in immer engere, doch immer noch zu weite Grenzen zurückgedrückt, durch schlechte Verwaltung ausgesogen und verödet im Innern, durch Verfall des frühern fanatischen Kriegergeistcs jedes Mittels der Erhebung beraubt, sank Mohammeds und SvlimanS Hcrrschergesolge zum erbärm¬ lichen Schattenbildc früherer Macht und Größe herab. Eigendünkel der Unwissenheit und Selbstüberschätzung, dieser Fluch eines i>o- lirten Volkes, ist dem des türkischen Volksstammes tief eingewurzelt. Viel hört und sieht man von fortschreitender Aufklärung, Volksbildung, wohl' thätigen Reformen. Aufklärung in der Türkei! ...... Allerdings hat das immer gewaltigere Drängen christlicher Macht und GesittnngSüberlegenheit den Lenkern des Staats und etwa noch einigen höher gestellten Persönlichkeiten ein gewisses demüthigendes Gefühl eigener Schwäche aufgedrungen und sie zur Nachahmung angereizt; die Masse des Volkes aber entgeht durchaus diesem ohnehin uur gleißenden Scheine, und ist, alle europäischen Nationen nach dem Musterbilde des schlauen Armeniers, des abgefeimten Griechen, des betrügerischen Peroteu, des kriechende» Juden u. f. w. beurtheilend, von der unermeßlichen Ueberlegenheit des eigenen Stammes und der eigeuen Persönlichkeit eben so klar und unerschütterlich über¬ zeugt, wie von der Allmacht Gottes und der Unfehlbarkeit seines Propheten.- Natürlich ist für jeden echten, d. h. strenggläubige« Türken erster GlaubcnS grundsatz, daß seine Religion die einzig wahre und seligmachende, so wie daß sein Padischa, als Nachfolger der weltgebictcnden Chalifen, sich mit Stolz und Recht den König der Könige nennt. Erobert durch das glückliche Schwert kriege«-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/192>, abgerufen am 23.07.2024.