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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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wiederfindet, und sie daher ziemlich .gleichmäßig verwirft; oder man läßt sich vom
Zufall leiten, und giebt je nach Lanne oder Stimmung dem einen oder dem andern
Schriftsteller das Prädicat des ethischen Inhalts, um doch die Gerechtigkeit irgend¬
wo auf Erden wiederzufinden. So hat es Wolfgang Menzel mit seinen Lieblingen
gemacht, Schiller, Tieck u. s. w., deren ethischer Gehalt ihm handgreiflich war,
während er bei Goethe vergebens darnach suchte. Es ist aber die Pflicht des
Kritikers, zunächst diesen eigenen ethischen Standpunkt des Dichters zu entdecken,
und ihn in seinem innern Zusammenhang zu verfolgen. Er muß zuerst aus
seinen eigenen Voraussetzungen herausgehen, um der Erscheinung gerecht zu
werden.

Allerdings hat er dann nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, weiter zu
gehen und an den individuellen Standpunkt des Dichters den absolute" Maßstab
-zu legen. Dieses Recht müssen wir mit der größten Entschiedenheit den moder¬
nen Verehrern Goethe's gegenüber festhalten, die beständig in gedankenlosem
Entzücken ersterben und dadurch, so viel an ihnen ist, die Entwickelung unsrer
Literatur in eine falsche Bahn lenken. Ja, wir müssen noch weiter gehen und
daS Recht in Anspruch nehmen, dem ersten Grunde der Verirrungen, welche sich
in den letzten, handgreiflich schlechten Werken des großen Dichters finde", in
seinen bessern nachzugehen und in der Conception des Werther, des Meister, des
Faust u. s. w. nachzuweisen, in wie weit die Krankhaftigkeit der spätern E"t- ,
wickelnng im Keim schon darin vorhanden war.

Dieselbe Kritik, welche wir an die uns gegenübertretcnde Erscheinung lege",
müssen wir aber auch aus das Princip anwenden, welches den Maßstab unsers
Urtheils bildet. Das hat Eichendorff nicht gethan. Für ihn steht es unumstö߬
lich fest, daß in dem Katholicismus eine objective Sicherheit, ein voller, reicher
und befriedigender Inhalt alles Glaubens und Wissens enthalte" sei, und daß
mit jedem Abfall von der Kirche zugleich eine Lösung der Individualität von
den objectiven Mächten der Sitte und des Gesetzes eintrete. Er verwechselt den
Schein der Sicherheit mit dem Wesen, und das zufällige, gemachte Recht mit dem
ursprünglichen Recht der menschlichen Natur; er verkennt es, daß in dem ernste"
und gewissenhaften Ringen nach absoluter Wahrheit, wie es das Wesen des echten
Protestantismus ist, eine größere Objectivität, ein tieferes Hcrabdrücken deö In¬
dividuellen unter das Allgemeine enthalten sei, als in der leichtfertigen Annahme
einer beliebigen Autorität, der mau sich aus Laune oder Trägheit "uterwirft. Er
würde sich über diesen Irrthum seines Princips sehr bald aufklären, wenn er
unbefangen die Erscheinungen zu Rathe zöge, wenn er die katholische Poesie nach
demselben Maßstab beurtheilte, wie die protestantische. DaS fällt ihm aber nicht
ein. Er läßt sich zu einigen oberflächlichen Lobsprüchen gegen Spec, Balde
und Denis herbei, und -glaubt damit die katholische Kirche vom Standpunkt der
Literatur vollständig gerechtfertigt zu haben. Wenn er mit größerer Unbefangenheit


wiederfindet, und sie daher ziemlich .gleichmäßig verwirft; oder man läßt sich vom
Zufall leiten, und giebt je nach Lanne oder Stimmung dem einen oder dem andern
Schriftsteller das Prädicat des ethischen Inhalts, um doch die Gerechtigkeit irgend¬
wo auf Erden wiederzufinden. So hat es Wolfgang Menzel mit seinen Lieblingen
gemacht, Schiller, Tieck u. s. w., deren ethischer Gehalt ihm handgreiflich war,
während er bei Goethe vergebens darnach suchte. Es ist aber die Pflicht des
Kritikers, zunächst diesen eigenen ethischen Standpunkt des Dichters zu entdecken,
und ihn in seinem innern Zusammenhang zu verfolgen. Er muß zuerst aus
seinen eigenen Voraussetzungen herausgehen, um der Erscheinung gerecht zu
werden.

Allerdings hat er dann nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, weiter zu
gehen und an den individuellen Standpunkt des Dichters den absolute» Maßstab
-zu legen. Dieses Recht müssen wir mit der größten Entschiedenheit den moder¬
nen Verehrern Goethe's gegenüber festhalten, die beständig in gedankenlosem
Entzücken ersterben und dadurch, so viel an ihnen ist, die Entwickelung unsrer
Literatur in eine falsche Bahn lenken. Ja, wir müssen noch weiter gehen und
daS Recht in Anspruch nehmen, dem ersten Grunde der Verirrungen, welche sich
in den letzten, handgreiflich schlechten Werken des großen Dichters finde», in
seinen bessern nachzugehen und in der Conception des Werther, des Meister, des
Faust u. s. w. nachzuweisen, in wie weit die Krankhaftigkeit der spätern E»t- ,
wickelnng im Keim schon darin vorhanden war.

Dieselbe Kritik, welche wir an die uns gegenübertretcnde Erscheinung lege»,
müssen wir aber auch aus das Princip anwenden, welches den Maßstab unsers
Urtheils bildet. Das hat Eichendorff nicht gethan. Für ihn steht es unumstö߬
lich fest, daß in dem Katholicismus eine objective Sicherheit, ein voller, reicher
und befriedigender Inhalt alles Glaubens und Wissens enthalte» sei, und daß
mit jedem Abfall von der Kirche zugleich eine Lösung der Individualität von
den objectiven Mächten der Sitte und des Gesetzes eintrete. Er verwechselt den
Schein der Sicherheit mit dem Wesen, und das zufällige, gemachte Recht mit dem
ursprünglichen Recht der menschlichen Natur; er verkennt es, daß in dem ernste»
und gewissenhaften Ringen nach absoluter Wahrheit, wie es das Wesen des echten
Protestantismus ist, eine größere Objectivität, ein tieferes Hcrabdrücken deö In¬
dividuellen unter das Allgemeine enthalten sei, als in der leichtfertigen Annahme
einer beliebigen Autorität, der mau sich aus Laune oder Trägheit »uterwirft. Er
würde sich über diesen Irrthum seines Princips sehr bald aufklären, wenn er
unbefangen die Erscheinungen zu Rathe zöge, wenn er die katholische Poesie nach
demselben Maßstab beurtheilte, wie die protestantische. DaS fällt ihm aber nicht
ein. Er läßt sich zu einigen oberflächlichen Lobsprüchen gegen Spec, Balde
und Denis herbei, und -glaubt damit die katholische Kirche vom Standpunkt der
Literatur vollständig gerechtfertigt zu haben. Wenn er mit größerer Unbefangenheit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/12>, abgerufen am 23.07.2024.