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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Studien zur Geschichte der französischen Romantik*).



C h a r a k t e r in a s k e n.

Daß die Schilderung einer bestimmten Zeit nicht der eigentliche Gegenstand
des nenfranzöstschen historischen Theaters ist, zeigt sich am deutlichsten an der Wie¬
derkehr gewisser Masken in Victor Hugo's Werken, mag die Scene im Mittelalter,
in der Renaissance oder im modernen Salon spielen, während derartige Charakter¬
bilder immer nur einer bestimmten Zeit angehören können.

Abgesehen von den Ungeheuern, über die ich schon gesprochen habe, den Han,
Habibrah, Quasimodo, Tribonlet, treten am auffallendsten vier Masken in den
Vordergrund: der finstre Wanderer mit dem Kainszeichen auf der Stirn und einem
Ocean von Liebe im Herzen, das Conterfei des Giaur, Childe Harold, Lara u.
s. w>; der feudale Baron vom alten Schlage; der abstracte Diplomat aus Tal-
leyrand's, Scribe's und Balzac's Schule, und der galante, ritterliche Bonvivant,
wie er sich in den Garnisonsabenteüern von A. Dumas bewegt. Alle vier tragen
das Gepräge eines vorwiegend lyrischen Charakters, und sind in ihrer Unbeweg-
lichkeit, sehr bezeichnend für die Conception unsers Dichters, nur als die fertigen
Resultate einer frühern dialektischen Bildung zu begreifen.

Die erste Figur hat ihre tiefere Begründung erst bei G. Sand gefunden (die
Benedict, Simon, Jacques, Trenmor, Pierre Huguenin, Albert v. Rudolstadt,
Henri Lemvr, Jacques Laurent u. f. w.), und ich werde bei der Kritik dieses
Dichters darauf zurückkommen. Die Maske steht übrigens auf sämmtlichen Bilder¬
bogen unseres Lesepublikums; wer hat nicht einmal einen Byron'schen Reiter auf
schwarzem Roß vorüberbrausen sehn, mit blassem Gesicht, hoher Stirn, schwarzen
Augen und Haaren, der mit dem Leben gebrochen hat, weil ihm irgend einmal
irgend etwas begegnet ist, was man nicht erfährt, was aber sehr schlimm sein muß,
und der nur Ein lebendiges Gefühl im Herzen trägt, die Sehnsucht nach einer
recht außerordentlichen Liebe. Eine Sentimentalität, die nur in einer Zeit zu er-



*) Die ersten Nummern erschienen im vorigen Jahrgang.
Grenzboten. I. 1LS0.v
Studien zur Geschichte der französischen Romantik*).



C h a r a k t e r in a s k e n.

Daß die Schilderung einer bestimmten Zeit nicht der eigentliche Gegenstand
des nenfranzöstschen historischen Theaters ist, zeigt sich am deutlichsten an der Wie¬
derkehr gewisser Masken in Victor Hugo's Werken, mag die Scene im Mittelalter,
in der Renaissance oder im modernen Salon spielen, während derartige Charakter¬
bilder immer nur einer bestimmten Zeit angehören können.

Abgesehen von den Ungeheuern, über die ich schon gesprochen habe, den Han,
Habibrah, Quasimodo, Tribonlet, treten am auffallendsten vier Masken in den
Vordergrund: der finstre Wanderer mit dem Kainszeichen auf der Stirn und einem
Ocean von Liebe im Herzen, das Conterfei des Giaur, Childe Harold, Lara u.
s. w>; der feudale Baron vom alten Schlage; der abstracte Diplomat aus Tal-
leyrand's, Scribe's und Balzac's Schule, und der galante, ritterliche Bonvivant,
wie er sich in den Garnisonsabenteüern von A. Dumas bewegt. Alle vier tragen
das Gepräge eines vorwiegend lyrischen Charakters, und sind in ihrer Unbeweg-
lichkeit, sehr bezeichnend für die Conception unsers Dichters, nur als die fertigen
Resultate einer frühern dialektischen Bildung zu begreifen.

Die erste Figur hat ihre tiefere Begründung erst bei G. Sand gefunden (die
Benedict, Simon, Jacques, Trenmor, Pierre Huguenin, Albert v. Rudolstadt,
Henri Lemvr, Jacques Laurent u. f. w.), und ich werde bei der Kritik dieses
Dichters darauf zurückkommen. Die Maske steht übrigens auf sämmtlichen Bilder¬
bogen unseres Lesepublikums; wer hat nicht einmal einen Byron'schen Reiter auf
schwarzem Roß vorüberbrausen sehn, mit blassem Gesicht, hoher Stirn, schwarzen
Augen und Haaren, der mit dem Leben gebrochen hat, weil ihm irgend einmal
irgend etwas begegnet ist, was man nicht erfährt, was aber sehr schlimm sein muß,
und der nur Ein lebendiges Gefühl im Herzen trägt, die Sehnsucht nach einer
recht außerordentlichen Liebe. Eine Sentimentalität, die nur in einer Zeit zu er-



*) Die ersten Nummern erschienen im vorigen Jahrgang.
Grenzboten. I. 1LS0.v
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[0049] Studien zur Geschichte der französischen Romantik*). C h a r a k t e r in a s k e n. Daß die Schilderung einer bestimmten Zeit nicht der eigentliche Gegenstand des nenfranzöstschen historischen Theaters ist, zeigt sich am deutlichsten an der Wie¬ derkehr gewisser Masken in Victor Hugo's Werken, mag die Scene im Mittelalter, in der Renaissance oder im modernen Salon spielen, während derartige Charakter¬ bilder immer nur einer bestimmten Zeit angehören können. Abgesehen von den Ungeheuern, über die ich schon gesprochen habe, den Han, Habibrah, Quasimodo, Tribonlet, treten am auffallendsten vier Masken in den Vordergrund: der finstre Wanderer mit dem Kainszeichen auf der Stirn und einem Ocean von Liebe im Herzen, das Conterfei des Giaur, Childe Harold, Lara u. s. w>; der feudale Baron vom alten Schlage; der abstracte Diplomat aus Tal- leyrand's, Scribe's und Balzac's Schule, und der galante, ritterliche Bonvivant, wie er sich in den Garnisonsabenteüern von A. Dumas bewegt. Alle vier tragen das Gepräge eines vorwiegend lyrischen Charakters, und sind in ihrer Unbeweg- lichkeit, sehr bezeichnend für die Conception unsers Dichters, nur als die fertigen Resultate einer frühern dialektischen Bildung zu begreifen. Die erste Figur hat ihre tiefere Begründung erst bei G. Sand gefunden (die Benedict, Simon, Jacques, Trenmor, Pierre Huguenin, Albert v. Rudolstadt, Henri Lemvr, Jacques Laurent u. f. w.), und ich werde bei der Kritik dieses Dichters darauf zurückkommen. Die Maske steht übrigens auf sämmtlichen Bilder¬ bogen unseres Lesepublikums; wer hat nicht einmal einen Byron'schen Reiter auf schwarzem Roß vorüberbrausen sehn, mit blassem Gesicht, hoher Stirn, schwarzen Augen und Haaren, der mit dem Leben gebrochen hat, weil ihm irgend einmal irgend etwas begegnet ist, was man nicht erfährt, was aber sehr schlimm sein muß, und der nur Ein lebendiges Gefühl im Herzen trägt, die Sehnsucht nach einer recht außerordentlichen Liebe. Eine Sentimentalität, die nur in einer Zeit zu er- *) Die ersten Nummern erschienen im vorigen Jahrgang. Grenzboten. I. 1LS0.v

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/49>, abgerufen am 20.06.2024.