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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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Macaulay und die englische Geschichtschreibung.



Zwei historische Abhandlungen von Thomas Babington Macaulay (über Ma-
chiavelli und Lord Clive), welche neuerdings aus dem IZdindurAN Keviexv über¬
setzt sind-), veranlassen uns, ans das große Geschichtswerk des britischen Staats¬
mannes zurückzugehen, das sowohl seiner Behandlung als seinem Inhalt nach von
unserer Zeit eine ernsthafte Beherzigung verdient. Borher noch ein kurzer Blick
auf die erste jener beiden Abhandlungen.

Sie scheint aus einer früheren Zeit herzurühren, wahrscheinlich aus 1825.
Leider kenne ich sie nicht im Original, wenn die Uebersetzung wortgetreu ist, so
hat sich Macaulay's Styl seitdem wesentlich verändert^). Was wir bei uns
geistvoll nennen, das Zusammenfassen verschiedener Gesichtspunkte und Perspectiven
in Einem Blick, finden wir in dieser älteren Schrift mehr, als in der Geschichte
Englands, die uns nur durch ruhigen, klar gewordenen Verstand imponirt. Die
Abhandlung ist ungeachtet ihres geringen Umfanges geeignet, uns vor der tiefen
und gründlichen Gelehrsamkeit des Verfassers den größten Respekt einzuflößen,
denn ohne diese ist die Sicherheit des Urtheils, die sich durch keinen Schein des
Widerspruchs verwirren läßt, nicht denkbar. Das Urtheil über Macchiavelli ist
das unbedingt richtige, weil es alle Gesichtspunkte umfaßt, von denen man diesen
merkwürdigen Mann aufzufassen hat, und weil es ihn in allen diesen Beziehungen
nicht isolirt, sondern im Zusammenhang mit dem Charakter seines Volks und sei¬
ner Zeit betrachtet. Wenn der Engländer über irgend eine geistige Erscheinung
berichtet, so wird er uns zu ihrer Erklärung nicht mit einzelnen philosophischen
Gesetzen abspeisen, sondern er wird auf ihre Basis eingehen, aus die materiellen
Verhältnisse, auf die bürgerlichen Einrichtungen, bis auf den Stand der Course.
Und er thut wohl daran, denn ohne die Kenntniß dieser materiellen Grundlage
ist die Sicherheit des Urtheils nur scheinbar, sie hält gegen eiuen ernsten Angriff
nicht fest.




Von Dr. Otto Seemann. Königsberg, Pfitzer und Hellmann.
*) A- B. "Mit eigenthümlicher Freude muß jeder gebildete Geist auf dem schönen Florenz
ausruhen, den Sälen, die widerhallten von Pulci's Scherzen, dem Kämmerchen, wo Poli-
tian's mitternächtliche Lampe schillerte, den Statuen, die Michel Angelo's junges Auge mit
der Gluth verwandter Begeisterung anstarrte, den Gärten, in denen Lorenzo ein fun¬
kelndes Lied zum Maitanz etrurischer Jungfrauen ersann. Ach über die reizende Stadt!
Ach über den Geist d ds Wiss d ds Gi d die Liebe!
Die Fraun, die Ritter, all die Lust und Plagen
Die sie durch Lieb' und Edelsinn erfuhren,
Da wo jetzt so gemein die Herzen schlagen.
Macaulay und die englische Geschichtschreibung.



Zwei historische Abhandlungen von Thomas Babington Macaulay (über Ma-
chiavelli und Lord Clive), welche neuerdings aus dem IZdindurAN Keviexv über¬
setzt sind-), veranlassen uns, ans das große Geschichtswerk des britischen Staats¬
mannes zurückzugehen, das sowohl seiner Behandlung als seinem Inhalt nach von
unserer Zeit eine ernsthafte Beherzigung verdient. Borher noch ein kurzer Blick
auf die erste jener beiden Abhandlungen.

Sie scheint aus einer früheren Zeit herzurühren, wahrscheinlich aus 1825.
Leider kenne ich sie nicht im Original, wenn die Uebersetzung wortgetreu ist, so
hat sich Macaulay's Styl seitdem wesentlich verändert^). Was wir bei uns
geistvoll nennen, das Zusammenfassen verschiedener Gesichtspunkte und Perspectiven
in Einem Blick, finden wir in dieser älteren Schrift mehr, als in der Geschichte
Englands, die uns nur durch ruhigen, klar gewordenen Verstand imponirt. Die
Abhandlung ist ungeachtet ihres geringen Umfanges geeignet, uns vor der tiefen
und gründlichen Gelehrsamkeit des Verfassers den größten Respekt einzuflößen,
denn ohne diese ist die Sicherheit des Urtheils, die sich durch keinen Schein des
Widerspruchs verwirren läßt, nicht denkbar. Das Urtheil über Macchiavelli ist
das unbedingt richtige, weil es alle Gesichtspunkte umfaßt, von denen man diesen
merkwürdigen Mann aufzufassen hat, und weil es ihn in allen diesen Beziehungen
nicht isolirt, sondern im Zusammenhang mit dem Charakter seines Volks und sei¬
ner Zeit betrachtet. Wenn der Engländer über irgend eine geistige Erscheinung
berichtet, so wird er uns zu ihrer Erklärung nicht mit einzelnen philosophischen
Gesetzen abspeisen, sondern er wird auf ihre Basis eingehen, aus die materiellen
Verhältnisse, auf die bürgerlichen Einrichtungen, bis auf den Stand der Course.
Und er thut wohl daran, denn ohne die Kenntniß dieser materiellen Grundlage
ist die Sicherheit des Urtheils nur scheinbar, sie hält gegen eiuen ernsten Angriff
nicht fest.




Von Dr. Otto Seemann. Königsberg, Pfitzer und Hellmann.
*) A- B. „Mit eigenthümlicher Freude muß jeder gebildete Geist auf dem schönen Florenz
ausruhen, den Sälen, die widerhallten von Pulci's Scherzen, dem Kämmerchen, wo Poli-
tian's mitternächtliche Lampe schillerte, den Statuen, die Michel Angelo's junges Auge mit
der Gluth verwandter Begeisterung anstarrte, den Gärten, in denen Lorenzo ein fun¬
kelndes Lied zum Maitanz etrurischer Jungfrauen ersann. Ach über die reizende Stadt!
Ach über den Geist d ds Wiss d ds Gi d die Liebe!
Die Fraun, die Ritter, all die Lust und Plagen
Die sie durch Lieb' und Edelsinn erfuhren,
Da wo jetzt so gemein die Herzen schlagen.
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[0396] Macaulay und die englische Geschichtschreibung. Zwei historische Abhandlungen von Thomas Babington Macaulay (über Ma- chiavelli und Lord Clive), welche neuerdings aus dem IZdindurAN Keviexv über¬ setzt sind-), veranlassen uns, ans das große Geschichtswerk des britischen Staats¬ mannes zurückzugehen, das sowohl seiner Behandlung als seinem Inhalt nach von unserer Zeit eine ernsthafte Beherzigung verdient. Borher noch ein kurzer Blick auf die erste jener beiden Abhandlungen. Sie scheint aus einer früheren Zeit herzurühren, wahrscheinlich aus 1825. Leider kenne ich sie nicht im Original, wenn die Uebersetzung wortgetreu ist, so hat sich Macaulay's Styl seitdem wesentlich verändert^). Was wir bei uns geistvoll nennen, das Zusammenfassen verschiedener Gesichtspunkte und Perspectiven in Einem Blick, finden wir in dieser älteren Schrift mehr, als in der Geschichte Englands, die uns nur durch ruhigen, klar gewordenen Verstand imponirt. Die Abhandlung ist ungeachtet ihres geringen Umfanges geeignet, uns vor der tiefen und gründlichen Gelehrsamkeit des Verfassers den größten Respekt einzuflößen, denn ohne diese ist die Sicherheit des Urtheils, die sich durch keinen Schein des Widerspruchs verwirren läßt, nicht denkbar. Das Urtheil über Macchiavelli ist das unbedingt richtige, weil es alle Gesichtspunkte umfaßt, von denen man diesen merkwürdigen Mann aufzufassen hat, und weil es ihn in allen diesen Beziehungen nicht isolirt, sondern im Zusammenhang mit dem Charakter seines Volks und sei¬ ner Zeit betrachtet. Wenn der Engländer über irgend eine geistige Erscheinung berichtet, so wird er uns zu ihrer Erklärung nicht mit einzelnen philosophischen Gesetzen abspeisen, sondern er wird auf ihre Basis eingehen, aus die materiellen Verhältnisse, auf die bürgerlichen Einrichtungen, bis auf den Stand der Course. Und er thut wohl daran, denn ohne die Kenntniß dieser materiellen Grundlage ist die Sicherheit des Urtheils nur scheinbar, sie hält gegen eiuen ernsten Angriff nicht fest. Von Dr. Otto Seemann. Königsberg, Pfitzer und Hellmann. *) A- B. „Mit eigenthümlicher Freude muß jeder gebildete Geist auf dem schönen Florenz ausruhen, den Sälen, die widerhallten von Pulci's Scherzen, dem Kämmerchen, wo Poli- tian's mitternächtliche Lampe schillerte, den Statuen, die Michel Angelo's junges Auge mit der Gluth verwandter Begeisterung anstarrte, den Gärten, in denen Lorenzo ein fun¬ kelndes Lied zum Maitanz etrurischer Jungfrauen ersann. Ach über die reizende Stadt! Ach über den Geist d ds Wiss d ds Gi d die Liebe! Die Fraun, die Ritter, all die Lust und Plagen Die sie durch Lieb' und Edelsinn erfuhren, Da wo jetzt so gemein die Herzen schlagen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/396>, abgerufen am 27.06.2024.