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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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der Druck empfindlich ist. Dieses "Volk" sagt von sich selbst: An Stelle eines
Handwerkers hat man einen Träumer aus mir gemacht; wozu arbeiten? fragte ich
mich. Ich strebte einem unsichtbaren Ziele nach, Alles schien mir real, Alles
möglich. -- So das wirkliche Volk. Ich fürchte, wenn man ihm in der That
die Zügel des Staats in die Hände gäbe, würden die Neuerungen etwas gefähr¬
lich sein. --

Diese symbolische Natur der Gegensätze führt uns auf den Punkt zurück, von
dem wir ausgegangen waren. Worin besteht das Ungewöhnliche, das Titanische
der Charaktere und der Situationen in Victor Hugo? Nicht in den einzelnen
Empfindungen, nicht in den einzelnen Thaten, sondern in der zweckwidrigen Com¬
bination derselben. Wenn ein vorlauter Bedienter vou seinem Herrn dadurch ge¬
demüthigt wird, daß er ihn das Fenster öffnen und schließen, das Schnupftuch
aufheben läßt und dergleichen, so finden wir darin nichts Auffallendes. Wenn
ein junger Enthusiast mit seiner politischen Idee bei dem alten Diplomaten nur
ein kaltes Lächeln findet, so ist das auch natürlich. Wenn ein junger Kavalier
seiner Königin den Hof macht und sich dadurch unangenehme Verwickelungen zu¬
zieht, so läßt sich dagegen auch nichts sagen. Aber wenn der Lakai, der das
Schnupftuch aufheben muß, der Enthusiast mit seinen Staatsgesprächen und der
in seine Fürstin verliebte Kavalier Eine und dieselbe Person sind, und wenn alle
diese Handlungen vor unseren Augen vorgehen, so überwiegt das Gefühl des Un¬
zweckmäßigen jede andere Regung; anstatt erschüttert zu werden, müssen wir lachen.
Wir empfinden die Gebrochenheit der Charaktere nicht als eine nothwendige, histo¬
rische, sondern als eine zufällige; wir sehen nicht die Geburtswehen einer neuen
Weltordnung, sondern ein untergeordnetes Krankheitsmoment eines Individuums.
Weder die Leidenschaft, noch der Charakter gestaltet sich zur Totalität; bald sehen
wir den moschusdustigen Seraph, bald den schmutzigen Caliban. Die Sprache
sprudelt wie ein sturmbewegter See, sie hat aber keinen Fluß, uns fortzureißen;
das Costüm, die Charaktere mit eingerechnet, ist bunt genug, bis ins kleinste De¬
tail ausgeführt, aber doch nichts als Maske; eigentlich steckt immer der Franzose
dahinter mit seiner vollen, dnrch den poetischen Contrast nur scheinbar gebrochenen
Convenienz. Die Romantik empfindet zu Vielerlei, um lies zu empfinden; sie
ist zu beweglich, um die Seele wahrhaft zu bewegen; zu skeptisch, um wahr zu
sein. Sie hat den äußeren Glaube" verloren, aber ihr sittliches Centrum uicht
gefunden, und schmilzt sich nun Götzen, um sie erst anzubeten, und dann zu zer¬
schlagen. --




der Druck empfindlich ist. Dieses „Volk" sagt von sich selbst: An Stelle eines
Handwerkers hat man einen Träumer aus mir gemacht; wozu arbeiten? fragte ich
mich. Ich strebte einem unsichtbaren Ziele nach, Alles schien mir real, Alles
möglich. — So das wirkliche Volk. Ich fürchte, wenn man ihm in der That
die Zügel des Staats in die Hände gäbe, würden die Neuerungen etwas gefähr¬
lich sein. —

Diese symbolische Natur der Gegensätze führt uns auf den Punkt zurück, von
dem wir ausgegangen waren. Worin besteht das Ungewöhnliche, das Titanische
der Charaktere und der Situationen in Victor Hugo? Nicht in den einzelnen
Empfindungen, nicht in den einzelnen Thaten, sondern in der zweckwidrigen Com¬
bination derselben. Wenn ein vorlauter Bedienter vou seinem Herrn dadurch ge¬
demüthigt wird, daß er ihn das Fenster öffnen und schließen, das Schnupftuch
aufheben läßt und dergleichen, so finden wir darin nichts Auffallendes. Wenn
ein junger Enthusiast mit seiner politischen Idee bei dem alten Diplomaten nur
ein kaltes Lächeln findet, so ist das auch natürlich. Wenn ein junger Kavalier
seiner Königin den Hof macht und sich dadurch unangenehme Verwickelungen zu¬
zieht, so läßt sich dagegen auch nichts sagen. Aber wenn der Lakai, der das
Schnupftuch aufheben muß, der Enthusiast mit seinen Staatsgesprächen und der
in seine Fürstin verliebte Kavalier Eine und dieselbe Person sind, und wenn alle
diese Handlungen vor unseren Augen vorgehen, so überwiegt das Gefühl des Un¬
zweckmäßigen jede andere Regung; anstatt erschüttert zu werden, müssen wir lachen.
Wir empfinden die Gebrochenheit der Charaktere nicht als eine nothwendige, histo¬
rische, sondern als eine zufällige; wir sehen nicht die Geburtswehen einer neuen
Weltordnung, sondern ein untergeordnetes Krankheitsmoment eines Individuums.
Weder die Leidenschaft, noch der Charakter gestaltet sich zur Totalität; bald sehen
wir den moschusdustigen Seraph, bald den schmutzigen Caliban. Die Sprache
sprudelt wie ein sturmbewegter See, sie hat aber keinen Fluß, uns fortzureißen;
das Costüm, die Charaktere mit eingerechnet, ist bunt genug, bis ins kleinste De¬
tail ausgeführt, aber doch nichts als Maske; eigentlich steckt immer der Franzose
dahinter mit seiner vollen, dnrch den poetischen Contrast nur scheinbar gebrochenen
Convenienz. Die Romantik empfindet zu Vielerlei, um lies zu empfinden; sie
ist zu beweglich, um die Seele wahrhaft zu bewegen; zu skeptisch, um wahr zu
sein. Sie hat den äußeren Glaube» verloren, aber ihr sittliches Centrum uicht
gefunden, und schmilzt sich nun Götzen, um sie erst anzubeten, und dann zu zer¬
schlagen. —




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/300>, abgerufen am 24.07.2024.