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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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er am Waldessaume irgend einen knorrigen liegenden Baumstamm, so ruft er aus:
"El, sieh' doch, junger Herr, sieht diese geisterhafte Gestalt dort nicht aus, wie
Kosciuszko in dem Augenblicke, als er bei Macieowice verwundet vom Pferde
sank, damals, wo er in russische Gefangenschaft gerieth?" -- Ein Schatten, ein
Busch, ein Vogel kann Gelegenheit geben, dem Knaben das Bild des großen
Boleslaw bei seinem historischen Ritte durch das goldene Thor von Kiew in die
Phantasie zu heften. Diese Lehrmethode ist keine erzwungene und erkünstelte. Sie
können kaum anders, sie müssen sich immer in'ihrer traurigen Geschichte bewegen,
ihre Gedanken fliegen beständig darum, wie die Schwalbe um ihr Nest, und sie
flößen diese Leidenschaft ihren Kindern ein, ohne dabei nach pädagogischer Berech¬
nung zu handeln. Beim Bauernstande ist von dieser Methode nichts zu gewahren,
denn der Bauer kennt Polens Geschichte nicht über seinen Wohnsitz und sein Le¬
ben hinaus. Die privilegirten Stände aber haben dieselbe Eigenthümlichkeit im
Großherzogthum Posen, wie in Litthauen, in Podolien, wie im Königreiche und
in Galizien.

Ueberhaupt findet man die polnischen Eigenheiten fast alle so allgemein und
so verbreitet, daß man sich überall im Gebiete des alten Polens fühlt, gleichviel,
ob man schwarz-weiße, schwarz-gelbe oder schwarz-weiß und rothe Schlagbäume
passirt. Selbst die Sprache zeugt für diese Wahrheit. Eine Dialectverschiedenheit
wie sie in Deutschland gefunden wird, ist in Polen nicht vorhanden, und rechnet
man Litthauen und das Nuthenenland ab, so findet man im ganzen untergegan¬
genen Sarmatenreiche eine fast vollkommen gleiche Sprache und Sprachweise. Auch
stabiler ist Alles im slavischen Osten. Seit mehr als vierhundert Jahren hat sich
die polnische Sprache fast gar nicht verändert. Wir Deutsche können die Schrif¬
ten aus dem fünfzehnten Jahrhunderte kaum mehr lesen, die Polen dagegen finden
keinen wesentliche" Unterschied zwischen ihrer Schreibweise und der des Mittelalters,
und wer die lithographirten Manuscripte des alten trefflichen Kochanvwski ansieht,
kann -- die Modeansdrücke abgerechnet -- in den Glauben gerathen, die Werke
eines der jüngsten Dichter zu lesen.

So ist auch die Lebensweise der verschiedenen Volksklassen, ja selbst die Bau¬
art der Städte und Dörfer durch das ganze polnische Reich völlig gleich, und
wenn man ein Dorf des Großherzogthums neben ein galizisches stellen könnte,
man würde nicht merken, daß sie aus verschiedenen Gegenden stammen. Eine
Hütte aus Holzbohlen mit Stroh, Schilf oder Tannenreisig gedeckt, vorn ein klei¬
nes Fenster, hinten ein kleines Fenster, darin eine große, ungedielte Stube, .ein
Wasserfaß zum Trinken, wie zum Waschen an der Stubenthür, ein zweites Faß
als Kleiderschrank in einer Ecke; in der andern ein ungeheurer, castellartiger
Steinhaufen, der den Backofen enthält, ein Tisch, dessen Füße als Pfähle in die
Erde eingeschlagen sind, dahinter ein riesenhaftes Bett, welches nichts weiter ist,
tels eine Pritsche, rund um halbirte Baumstämme auf Pfählen als Bänke, neben


er am Waldessaume irgend einen knorrigen liegenden Baumstamm, so ruft er aus:
„El, sieh' doch, junger Herr, sieht diese geisterhafte Gestalt dort nicht aus, wie
Kosciuszko in dem Augenblicke, als er bei Macieowice verwundet vom Pferde
sank, damals, wo er in russische Gefangenschaft gerieth?" — Ein Schatten, ein
Busch, ein Vogel kann Gelegenheit geben, dem Knaben das Bild des großen
Boleslaw bei seinem historischen Ritte durch das goldene Thor von Kiew in die
Phantasie zu heften. Diese Lehrmethode ist keine erzwungene und erkünstelte. Sie
können kaum anders, sie müssen sich immer in'ihrer traurigen Geschichte bewegen,
ihre Gedanken fliegen beständig darum, wie die Schwalbe um ihr Nest, und sie
flößen diese Leidenschaft ihren Kindern ein, ohne dabei nach pädagogischer Berech¬
nung zu handeln. Beim Bauernstande ist von dieser Methode nichts zu gewahren,
denn der Bauer kennt Polens Geschichte nicht über seinen Wohnsitz und sein Le¬
ben hinaus. Die privilegirten Stände aber haben dieselbe Eigenthümlichkeit im
Großherzogthum Posen, wie in Litthauen, in Podolien, wie im Königreiche und
in Galizien.

Ueberhaupt findet man die polnischen Eigenheiten fast alle so allgemein und
so verbreitet, daß man sich überall im Gebiete des alten Polens fühlt, gleichviel,
ob man schwarz-weiße, schwarz-gelbe oder schwarz-weiß und rothe Schlagbäume
passirt. Selbst die Sprache zeugt für diese Wahrheit. Eine Dialectverschiedenheit
wie sie in Deutschland gefunden wird, ist in Polen nicht vorhanden, und rechnet
man Litthauen und das Nuthenenland ab, so findet man im ganzen untergegan¬
genen Sarmatenreiche eine fast vollkommen gleiche Sprache und Sprachweise. Auch
stabiler ist Alles im slavischen Osten. Seit mehr als vierhundert Jahren hat sich
die polnische Sprache fast gar nicht verändert. Wir Deutsche können die Schrif¬
ten aus dem fünfzehnten Jahrhunderte kaum mehr lesen, die Polen dagegen finden
keinen wesentliche» Unterschied zwischen ihrer Schreibweise und der des Mittelalters,
und wer die lithographirten Manuscripte des alten trefflichen Kochanvwski ansieht,
kann — die Modeansdrücke abgerechnet — in den Glauben gerathen, die Werke
eines der jüngsten Dichter zu lesen.

So ist auch die Lebensweise der verschiedenen Volksklassen, ja selbst die Bau¬
art der Städte und Dörfer durch das ganze polnische Reich völlig gleich, und
wenn man ein Dorf des Großherzogthums neben ein galizisches stellen könnte,
man würde nicht merken, daß sie aus verschiedenen Gegenden stammen. Eine
Hütte aus Holzbohlen mit Stroh, Schilf oder Tannenreisig gedeckt, vorn ein klei¬
nes Fenster, hinten ein kleines Fenster, darin eine große, ungedielte Stube, .ein
Wasserfaß zum Trinken, wie zum Waschen an der Stubenthür, ein zweites Faß
als Kleiderschrank in einer Ecke; in der andern ein ungeheurer, castellartiger
Steinhaufen, der den Backofen enthält, ein Tisch, dessen Füße als Pfähle in die
Erde eingeschlagen sind, dahinter ein riesenhaftes Bett, welches nichts weiter ist,
tels eine Pritsche, rund um halbirte Baumstämme auf Pfählen als Bänke, neben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/188>, abgerufen am 24.07.2024.