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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Verschrobenheit, vor sich hat, so sollte man leicht ans die Vermuthung kommen, näch¬
stens den gesammten preußischen Adel im weißen Hemdchen, wie die Flagellanten des
Mittelalters, von Stadt zu Stadt ziehn und sich gegenseitig den Rücken wund
geißeln zu sehen. Freilich wird er dies unterlassen, aber eben dadurch kommt in
seine Erscheinung eine Doppelnatur (um den stärkeren Ausdruck Heuchelei zu
vermeiden), die ebeu uicht geeignet ist, seine sittlichen Grundlagen zu befestigen,
und die uns in die Lage treibt, ihm nicht im edlen Wetteifer um das Wohl des
gemeinsamen Vaterlandes, sondern in offener, tödtlicher Feindschaft zu begegnen.
Denn der Absolutismus ist ein vorübergehendes Uebel, das nnter Umständen
Segen bringt; wäre es aber möglich, was jene Partei mit großer Ostentation
erstrebt, den freien Geist in die alte Unmündigkeit zurückzuführen, so wäre das
ein sittliches Verderbniß, dessen Wirkungen sich weit über die gegenwärtige Ge¬
neration hinaus erstrecken müßten.

Wenn wir mit der Partei, welche im Namen der Geschichte gegen unsre
Bestrebungen anzukämpfen vorgibt, abrechnen wollten, so würde es sich leicht nach¬
weisen lassen, daß wir überall für das historische Recht, oder, bestimmter ausge¬
drückt, für die Erfüllung der historischen Voraussetzungen aufgetreten sind, und
daß sie die Ideologen waren, die Träumer, die vor dem Nebel ihrer phantastischen
Visionen die Wirklichkeit nicht sahen. -- Wenn ich von dem Berliner politischen
Wochenblatt und dem rheinischen Beobachter absehe, so fand ihr erstes ernsthaftes
Auftreten im Vereinigten Landtag statt. -- Der Vereinigte Landtag war nicht
blos eine Berufung auf die Papiere von 1815; er war eine Gestaltung, zu welcher
von zwei verschiedenen Seiten das Bedürfniß drängte. -- Der preußische Staat,
der allerdings seine Begründung lediglich im Königthum Fu suchen hat, war bis
dahin nur durch das Militär und den Beamtenstand repräsentirt worden: ein
Militär, welches, vou einzelnen Jnconvenienzen abgesehen, in seinem Inhalt wie
in seiner Form als Muster für Europa dastand, und eine Bureaukratie, die we¬
nigstens im Ganzen an schulmäßiger Bildung und an redlichem Willen ihres
Gleichen nicht hatte, die sich einer gewissen Unabhängigkeit von dem Wechsel der
obersten Machthaber erfreute, und die uicht ganz mit Unrecht glauben konnte, zu
der eigentlichen Vertretung des preußischen Volkes berufen zu sein. -- Allem sie
reichte, trotz ihrer hohen Bildung, für die fortschreitenden Ansprüche der Zeit nicht
aus. Sie war uicht allein ihrer isolirten Stellung wegen dem Volk, das sich
allmälig selber fühlte, entfremdet, sondern es hatten sich außerhalb ihres Um¬
kreises Kräfte entwickelt, die mit ihr nichts zu thun hatten, denen sie auch an
Einsicht uicht mehr gewachsen war. Die großen industriellen und andern auf
privater Association beruhenden Unternehmungen einerseits, die Entwickelung der
Landwirthschaft andererseits, die nicht mehr ausschließlich bei den Domänen in
die Schule zu gehen brauchte, endlich die freie Wissenschaft, die sich dem officiellen
Codex entzog, verlangten einen Platz in dem rechtlich geordneten Staatswesen. --


Verschrobenheit, vor sich hat, so sollte man leicht ans die Vermuthung kommen, näch¬
stens den gesammten preußischen Adel im weißen Hemdchen, wie die Flagellanten des
Mittelalters, von Stadt zu Stadt ziehn und sich gegenseitig den Rücken wund
geißeln zu sehen. Freilich wird er dies unterlassen, aber eben dadurch kommt in
seine Erscheinung eine Doppelnatur (um den stärkeren Ausdruck Heuchelei zu
vermeiden), die ebeu uicht geeignet ist, seine sittlichen Grundlagen zu befestigen,
und die uns in die Lage treibt, ihm nicht im edlen Wetteifer um das Wohl des
gemeinsamen Vaterlandes, sondern in offener, tödtlicher Feindschaft zu begegnen.
Denn der Absolutismus ist ein vorübergehendes Uebel, das nnter Umständen
Segen bringt; wäre es aber möglich, was jene Partei mit großer Ostentation
erstrebt, den freien Geist in die alte Unmündigkeit zurückzuführen, so wäre das
ein sittliches Verderbniß, dessen Wirkungen sich weit über die gegenwärtige Ge¬
neration hinaus erstrecken müßten.

Wenn wir mit der Partei, welche im Namen der Geschichte gegen unsre
Bestrebungen anzukämpfen vorgibt, abrechnen wollten, so würde es sich leicht nach¬
weisen lassen, daß wir überall für das historische Recht, oder, bestimmter ausge¬
drückt, für die Erfüllung der historischen Voraussetzungen aufgetreten sind, und
daß sie die Ideologen waren, die Träumer, die vor dem Nebel ihrer phantastischen
Visionen die Wirklichkeit nicht sahen. — Wenn ich von dem Berliner politischen
Wochenblatt und dem rheinischen Beobachter absehe, so fand ihr erstes ernsthaftes
Auftreten im Vereinigten Landtag statt. — Der Vereinigte Landtag war nicht
blos eine Berufung auf die Papiere von 1815; er war eine Gestaltung, zu welcher
von zwei verschiedenen Seiten das Bedürfniß drängte. — Der preußische Staat,
der allerdings seine Begründung lediglich im Königthum Fu suchen hat, war bis
dahin nur durch das Militär und den Beamtenstand repräsentirt worden: ein
Militär, welches, vou einzelnen Jnconvenienzen abgesehen, in seinem Inhalt wie
in seiner Form als Muster für Europa dastand, und eine Bureaukratie, die we¬
nigstens im Ganzen an schulmäßiger Bildung und an redlichem Willen ihres
Gleichen nicht hatte, die sich einer gewissen Unabhängigkeit von dem Wechsel der
obersten Machthaber erfreute, und die uicht ganz mit Unrecht glauben konnte, zu
der eigentlichen Vertretung des preußischen Volkes berufen zu sein. — Allem sie
reichte, trotz ihrer hohen Bildung, für die fortschreitenden Ansprüche der Zeit nicht
aus. Sie war uicht allein ihrer isolirten Stellung wegen dem Volk, das sich
allmälig selber fühlte, entfremdet, sondern es hatten sich außerhalb ihres Um¬
kreises Kräfte entwickelt, die mit ihr nichts zu thun hatten, denen sie auch an
Einsicht uicht mehr gewachsen war. Die großen industriellen und andern auf
privater Association beruhenden Unternehmungen einerseits, die Entwickelung der
Landwirthschaft andererseits, die nicht mehr ausschließlich bei den Domänen in
die Schule zu gehen brauchte, endlich die freie Wissenschaft, die sich dem officiellen
Codex entzog, verlangten einen Platz in dem rechtlich geordneten Staatswesen. —


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[0517] Verschrobenheit, vor sich hat, so sollte man leicht ans die Vermuthung kommen, näch¬ stens den gesammten preußischen Adel im weißen Hemdchen, wie die Flagellanten des Mittelalters, von Stadt zu Stadt ziehn und sich gegenseitig den Rücken wund geißeln zu sehen. Freilich wird er dies unterlassen, aber eben dadurch kommt in seine Erscheinung eine Doppelnatur (um den stärkeren Ausdruck Heuchelei zu vermeiden), die ebeu uicht geeignet ist, seine sittlichen Grundlagen zu befestigen, und die uns in die Lage treibt, ihm nicht im edlen Wetteifer um das Wohl des gemeinsamen Vaterlandes, sondern in offener, tödtlicher Feindschaft zu begegnen. Denn der Absolutismus ist ein vorübergehendes Uebel, das nnter Umständen Segen bringt; wäre es aber möglich, was jene Partei mit großer Ostentation erstrebt, den freien Geist in die alte Unmündigkeit zurückzuführen, so wäre das ein sittliches Verderbniß, dessen Wirkungen sich weit über die gegenwärtige Ge¬ neration hinaus erstrecken müßten. Wenn wir mit der Partei, welche im Namen der Geschichte gegen unsre Bestrebungen anzukämpfen vorgibt, abrechnen wollten, so würde es sich leicht nach¬ weisen lassen, daß wir überall für das historische Recht, oder, bestimmter ausge¬ drückt, für die Erfüllung der historischen Voraussetzungen aufgetreten sind, und daß sie die Ideologen waren, die Träumer, die vor dem Nebel ihrer phantastischen Visionen die Wirklichkeit nicht sahen. — Wenn ich von dem Berliner politischen Wochenblatt und dem rheinischen Beobachter absehe, so fand ihr erstes ernsthaftes Auftreten im Vereinigten Landtag statt. — Der Vereinigte Landtag war nicht blos eine Berufung auf die Papiere von 1815; er war eine Gestaltung, zu welcher von zwei verschiedenen Seiten das Bedürfniß drängte. — Der preußische Staat, der allerdings seine Begründung lediglich im Königthum Fu suchen hat, war bis dahin nur durch das Militär und den Beamtenstand repräsentirt worden: ein Militär, welches, vou einzelnen Jnconvenienzen abgesehen, in seinem Inhalt wie in seiner Form als Muster für Europa dastand, und eine Bureaukratie, die we¬ nigstens im Ganzen an schulmäßiger Bildung und an redlichem Willen ihres Gleichen nicht hatte, die sich einer gewissen Unabhängigkeit von dem Wechsel der obersten Machthaber erfreute, und die uicht ganz mit Unrecht glauben konnte, zu der eigentlichen Vertretung des preußischen Volkes berufen zu sein. — Allem sie reichte, trotz ihrer hohen Bildung, für die fortschreitenden Ansprüche der Zeit nicht aus. Sie war uicht allein ihrer isolirten Stellung wegen dem Volk, das sich allmälig selber fühlte, entfremdet, sondern es hatten sich außerhalb ihres Um¬ kreises Kräfte entwickelt, die mit ihr nichts zu thun hatten, denen sie auch an Einsicht uicht mehr gewachsen war. Die großen industriellen und andern auf privater Association beruhenden Unternehmungen einerseits, die Entwickelung der Landwirthschaft andererseits, die nicht mehr ausschließlich bei den Domänen in die Schule zu gehen brauchte, endlich die freie Wissenschaft, die sich dem officiellen Codex entzog, verlangten einen Platz in dem rechtlich geordneten Staatswesen. —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/517>, abgerufen am 22.07.2024.