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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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men aufgestellt: !) Man trage Grundsätze der reinen Theorie allemal alsdann,
aber nie eher in die Wirklichkeit über, als bis diese in ihrem ganzen Umfang die¬
selben uicht mehr hindert, diejenigen Folgen zu äußern, welche sie, ohne alle
fremde Beimischung, immer hervorbringen würden; 2) um den Uebergang von
dem gegenwärtigen Zustande zum neu beschlossenen zu bewirken, lasse man, soviel
möglich, jede Reform von den Ideen und deu Köpfen der Meuscheu ausgehen.

Diese Untersuchung leidet an dem Uebelstand, welcher mit dem Wesen der
Kantisch-Fichtischen Philosophie zusammenhängt: daß sie nämlich "deu Meu¬
scheu" als ein Prius annimmt, an den der Staat in dieser oder jener Form erst
herankomme. Der Staat wird folgerecht als eine künstliche Anstalt zum Besten
der in demselben vorhandenen Individuen betrachtet; die um so mehr eingeschränkt
werden müsse, je mehr sich die Bürger vervollkommneten, deren höchster Zweck
endlich sei, sich selber überflüssig zu machen. Diese unwahre Auffassung des ein-
seitigen Liberalismus vom Wesen des Staats widerlegt zu haben, ist das
Hauptverdienst der historischen Schule; ein Verdienst, um dessen willen wir
ihr mauche Sünden zu Gute halten mögen.

Der Staat ist uicht eine einzelne Anstalt, die neben den übrigen bürgerlichen
hergeht; nicht eine beliebige Form, die so oder auch anders hätte ausfallen können,
und die man abwerfen kann, sobald man eine bessere Einsicht in die Zwecke des
Menschen erlangt hat; nicht eine bloße Uebergangsstnfe, die mit dem höchsten
Ideale der menschlichen Natur unvereinbar ist: sondern er ist die Totalität des
menschlichen Lebeus, die nothwendige Naturform, die jede Volksindividualität sich
selbst gibt, und zugleich die höchste Entfaltung des menschlichen Wesens. Eine
Theorie von dem Zweck des Staats ist leer, wenn uicht vorher erörtert wird, von
welchem Staat die Rede ist, denn die eine politische Individualität ist ihrer Form
wie ihrem Inhalt nach von der andern gerade so verschieden -- so weit solche
Vergleiche überhaupt statthaft siud -- wie eine thierische Individualität von der
andern. Der Staat ist ein lebendiger Organismus, dessen innere Entwickelung
Revolutionen nicht ausschließt, doch nnr in der Weise, daß anch die Revolution
dem Gesetz des Organismus entspricht.

Ich wollte diese allgemeine Bemerkung, die weiter zu verfolgen hier nicht der
Ort ist, nur andeuten, um sofort die Anwendung ans den preußischen Staat zu
machen. -- Die Jünger der historischen Schule, wie jeuer Nuudschauer der Kreuz-
zeitung, überraschen uns in ihrer Kritik des Liberalismus zuweilen dnrch eine treffende
Bemerkung, aus der aber dann sogleich die schiefsten Folgerungen gezogen wer¬
den. Nichts kann richtiger sein, als der Tadel jener Schablonen, vermittelst welcher
entweder nach dem Beispiel Englands oder Frankreichs oder der nordamerikanischen
Freistaaten, oder nach einem a priori aufgestellten Begriff des constitutionellen
Staats aus Preußen etwas wesentlich Verschiedenes gemacht werden soll von dem,
was es bis jetzt war. Das Königthum mit seinem Heer und seiner Bureaukratie


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men aufgestellt: !) Man trage Grundsätze der reinen Theorie allemal alsdann,
aber nie eher in die Wirklichkeit über, als bis diese in ihrem ganzen Umfang die¬
selben uicht mehr hindert, diejenigen Folgen zu äußern, welche sie, ohne alle
fremde Beimischung, immer hervorbringen würden; 2) um den Uebergang von
dem gegenwärtigen Zustande zum neu beschlossenen zu bewirken, lasse man, soviel
möglich, jede Reform von den Ideen und deu Köpfen der Meuscheu ausgehen.

Diese Untersuchung leidet an dem Uebelstand, welcher mit dem Wesen der
Kantisch-Fichtischen Philosophie zusammenhängt: daß sie nämlich „deu Meu¬
scheu" als ein Prius annimmt, an den der Staat in dieser oder jener Form erst
herankomme. Der Staat wird folgerecht als eine künstliche Anstalt zum Besten
der in demselben vorhandenen Individuen betrachtet; die um so mehr eingeschränkt
werden müsse, je mehr sich die Bürger vervollkommneten, deren höchster Zweck
endlich sei, sich selber überflüssig zu machen. Diese unwahre Auffassung des ein-
seitigen Liberalismus vom Wesen des Staats widerlegt zu haben, ist das
Hauptverdienst der historischen Schule; ein Verdienst, um dessen willen wir
ihr mauche Sünden zu Gute halten mögen.

Der Staat ist uicht eine einzelne Anstalt, die neben den übrigen bürgerlichen
hergeht; nicht eine beliebige Form, die so oder auch anders hätte ausfallen können,
und die man abwerfen kann, sobald man eine bessere Einsicht in die Zwecke des
Menschen erlangt hat; nicht eine bloße Uebergangsstnfe, die mit dem höchsten
Ideale der menschlichen Natur unvereinbar ist: sondern er ist die Totalität des
menschlichen Lebeus, die nothwendige Naturform, die jede Volksindividualität sich
selbst gibt, und zugleich die höchste Entfaltung des menschlichen Wesens. Eine
Theorie von dem Zweck des Staats ist leer, wenn uicht vorher erörtert wird, von
welchem Staat die Rede ist, denn die eine politische Individualität ist ihrer Form
wie ihrem Inhalt nach von der andern gerade so verschieden — so weit solche
Vergleiche überhaupt statthaft siud — wie eine thierische Individualität von der
andern. Der Staat ist ein lebendiger Organismus, dessen innere Entwickelung
Revolutionen nicht ausschließt, doch nnr in der Weise, daß anch die Revolution
dem Gesetz des Organismus entspricht.

Ich wollte diese allgemeine Bemerkung, die weiter zu verfolgen hier nicht der
Ort ist, nur andeuten, um sofort die Anwendung ans den preußischen Staat zu
machen. — Die Jünger der historischen Schule, wie jeuer Nuudschauer der Kreuz-
zeitung, überraschen uns in ihrer Kritik des Liberalismus zuweilen dnrch eine treffende
Bemerkung, aus der aber dann sogleich die schiefsten Folgerungen gezogen wer¬
den. Nichts kann richtiger sein, als der Tadel jener Schablonen, vermittelst welcher
entweder nach dem Beispiel Englands oder Frankreichs oder der nordamerikanischen
Freistaaten, oder nach einem a priori aufgestellten Begriff des constitutionellen
Staats aus Preußen etwas wesentlich Verschiedenes gemacht werden soll von dem,
was es bis jetzt war. Das Königthum mit seinem Heer und seiner Bureaukratie


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[0515] men aufgestellt: !) Man trage Grundsätze der reinen Theorie allemal alsdann, aber nie eher in die Wirklichkeit über, als bis diese in ihrem ganzen Umfang die¬ selben uicht mehr hindert, diejenigen Folgen zu äußern, welche sie, ohne alle fremde Beimischung, immer hervorbringen würden; 2) um den Uebergang von dem gegenwärtigen Zustande zum neu beschlossenen zu bewirken, lasse man, soviel möglich, jede Reform von den Ideen und deu Köpfen der Meuscheu ausgehen. Diese Untersuchung leidet an dem Uebelstand, welcher mit dem Wesen der Kantisch-Fichtischen Philosophie zusammenhängt: daß sie nämlich „deu Meu¬ scheu" als ein Prius annimmt, an den der Staat in dieser oder jener Form erst herankomme. Der Staat wird folgerecht als eine künstliche Anstalt zum Besten der in demselben vorhandenen Individuen betrachtet; die um so mehr eingeschränkt werden müsse, je mehr sich die Bürger vervollkommneten, deren höchster Zweck endlich sei, sich selber überflüssig zu machen. Diese unwahre Auffassung des ein- seitigen Liberalismus vom Wesen des Staats widerlegt zu haben, ist das Hauptverdienst der historischen Schule; ein Verdienst, um dessen willen wir ihr mauche Sünden zu Gute halten mögen. Der Staat ist uicht eine einzelne Anstalt, die neben den übrigen bürgerlichen hergeht; nicht eine beliebige Form, die so oder auch anders hätte ausfallen können, und die man abwerfen kann, sobald man eine bessere Einsicht in die Zwecke des Menschen erlangt hat; nicht eine bloße Uebergangsstnfe, die mit dem höchsten Ideale der menschlichen Natur unvereinbar ist: sondern er ist die Totalität des menschlichen Lebeus, die nothwendige Naturform, die jede Volksindividualität sich selbst gibt, und zugleich die höchste Entfaltung des menschlichen Wesens. Eine Theorie von dem Zweck des Staats ist leer, wenn uicht vorher erörtert wird, von welchem Staat die Rede ist, denn die eine politische Individualität ist ihrer Form wie ihrem Inhalt nach von der andern gerade so verschieden — so weit solche Vergleiche überhaupt statthaft siud — wie eine thierische Individualität von der andern. Der Staat ist ein lebendiger Organismus, dessen innere Entwickelung Revolutionen nicht ausschließt, doch nnr in der Weise, daß anch die Revolution dem Gesetz des Organismus entspricht. Ich wollte diese allgemeine Bemerkung, die weiter zu verfolgen hier nicht der Ort ist, nur andeuten, um sofort die Anwendung ans den preußischen Staat zu machen. — Die Jünger der historischen Schule, wie jeuer Nuudschauer der Kreuz- zeitung, überraschen uns in ihrer Kritik des Liberalismus zuweilen dnrch eine treffende Bemerkung, aus der aber dann sogleich die schiefsten Folgerungen gezogen wer¬ den. Nichts kann richtiger sein, als der Tadel jener Schablonen, vermittelst welcher entweder nach dem Beispiel Englands oder Frankreichs oder der nordamerikanischen Freistaaten, oder nach einem a priori aufgestellten Begriff des constitutionellen Staats aus Preußen etwas wesentlich Verschiedenes gemacht werden soll von dem, was es bis jetzt war. Das Königthum mit seinem Heer und seiner Bureaukratie 129 "

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/515>, abgerufen am 22.07.2024.