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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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an Confusion, Schwulstund eitler Faselei nicht nachstehen, wenn es die französische
Sprache uicht unmöglich machte, reinen Unsinn zu reden.

Planche und Nisard siud sehr verständige, klare und nüchterne Denker; aber
uicht vou jeuer Nüchternheit, die aus Schwäche und Leere entspringt, sMderu
von jener, die gleichbedeutend ist mit Besonnenheit, und die sich von der Mannig¬
faltigkeit der Eindrücke und Gesichtspunkte uicht überwältigen und verwirren läßt.
Nisard, der in seiner Literaturgeschichte so weit geht, Boileau's povUquL für
eine völlig erschöpfende Kritik der gesammten vorhergehenden Literatur zu erklären,
welche die späteren Untersuchungen näher erörtern und begründen, aber nicht ver¬
ändern, nicht einmal mehr erweitern könnten, der in Racine das Maximum aller
dramatischen Poesie sieht, gegen welches Shakespeare, die Deutschen und die mo¬
dernen Franzosen nur Stümper wären -- ist darum uicht unempfänglich für Para¬
doxen des Gedankens, für dreiste Charakteristik, für wilde Ausbrüche der Leidenschaft
in der Poesie; er fordert nnr für den Gedanken Bestimmtheit, für die Charak¬
teristik plastisches Maß, für die Leidenschaft Concentration und Festhalten am
Gesetz der Stimmung; er kämpft gegen jene Zerstreutheit in, den Gedanken,
Empfindungen und Thaten, die neugierig vou einem Gegenstand.zum andern flattert
und sich zuletzt in Kuriositäten und Aeußerlichkeiten verliert.

Ich bin weit entfernt, in jenen beideu Schriftstellern das höchste Ideal der
Kritik zu verehren, aber mau kauu unendlich viel mehr ans ihnen lernen, als von
einem Hundert jeuer belletristischen Feuilleton-Kritiker, die aus dein Esprit ein
Geschäft machen.

Planche, der seit zwanzig Jahren in der Revue des äeux monäes -- in
welcher Anfangs die Romantik nud ihre Apostel, Se.-Beuve u. s. w., das große
Wort führten -- als unermüdlicher Quälgeist die Ausschweifungen der jungen
Schule verfolgt, steht keineswegs ans dem Standpunkt der aristotelischen Einheit
und der Napoleonischen Klassicität. Diese hatten sich ein allgemeines Ideal von
guten nud poetischen Menschen gebildet, das aus deu alten Schäferspieleu und
Ritterromanen herrührte; sie waren darüber ungehalten, daß ihnen dieses Ideal
durch die Abnormitäten der Geschichte, ans der die neuen Dichter ihre sittliche Be¬
stimmtheit suchten, verkehrt wurde. Im Interesse des allgemein Menschlichen,
das allein Gegenstand der Kunst sein dürfe, protestirten sie gegen die geschichtliche
Bestimmtheit der dramatischen Figuren, aus denen doch nur gebrochene Charaktere
hervorgehen könnten. Planche schlägt deu umgekehrtem Weg ein. Er tadelt die
Romantiker uicht, daß sie sich überhaupt in die Details historischer Zustände ver¬
tiefe, soudern daß sie es uicht mit dem gehörigen Ernst thun. Verständen sie
es, die Verhältnisse einer bestimmten Zeit in ihrer vollen Breite und Tiefe zu
umfassen, so würden die Resultate dieser Verhältnisse, die historischen Figuren, anf¬
rören, Zerrbilder zu sein; sie würden, allerdings auf dem Umwege der zeitlichen
Bestimmtheit, wieder in die Idealität des allgemein Menschlichen zurückkehren.


an Confusion, Schwulstund eitler Faselei nicht nachstehen, wenn es die französische
Sprache uicht unmöglich machte, reinen Unsinn zu reden.

Planche und Nisard siud sehr verständige, klare und nüchterne Denker; aber
uicht vou jeuer Nüchternheit, die aus Schwäche und Leere entspringt, sMderu
von jener, die gleichbedeutend ist mit Besonnenheit, und die sich von der Mannig¬
faltigkeit der Eindrücke und Gesichtspunkte uicht überwältigen und verwirren läßt.
Nisard, der in seiner Literaturgeschichte so weit geht, Boileau's povUquL für
eine völlig erschöpfende Kritik der gesammten vorhergehenden Literatur zu erklären,
welche die späteren Untersuchungen näher erörtern und begründen, aber nicht ver¬
ändern, nicht einmal mehr erweitern könnten, der in Racine das Maximum aller
dramatischen Poesie sieht, gegen welches Shakespeare, die Deutschen und die mo¬
dernen Franzosen nur Stümper wären — ist darum uicht unempfänglich für Para¬
doxen des Gedankens, für dreiste Charakteristik, für wilde Ausbrüche der Leidenschaft
in der Poesie; er fordert nnr für den Gedanken Bestimmtheit, für die Charak¬
teristik plastisches Maß, für die Leidenschaft Concentration und Festhalten am
Gesetz der Stimmung; er kämpft gegen jene Zerstreutheit in, den Gedanken,
Empfindungen und Thaten, die neugierig vou einem Gegenstand.zum andern flattert
und sich zuletzt in Kuriositäten und Aeußerlichkeiten verliert.

Ich bin weit entfernt, in jenen beideu Schriftstellern das höchste Ideal der
Kritik zu verehren, aber mau kauu unendlich viel mehr ans ihnen lernen, als von
einem Hundert jeuer belletristischen Feuilleton-Kritiker, die aus dein Esprit ein
Geschäft machen.

Planche, der seit zwanzig Jahren in der Revue des äeux monäes — in
welcher Anfangs die Romantik nud ihre Apostel, Se.-Beuve u. s. w., das große
Wort führten — als unermüdlicher Quälgeist die Ausschweifungen der jungen
Schule verfolgt, steht keineswegs ans dem Standpunkt der aristotelischen Einheit
und der Napoleonischen Klassicität. Diese hatten sich ein allgemeines Ideal von
guten nud poetischen Menschen gebildet, das aus deu alten Schäferspieleu und
Ritterromanen herrührte; sie waren darüber ungehalten, daß ihnen dieses Ideal
durch die Abnormitäten der Geschichte, ans der die neuen Dichter ihre sittliche Be¬
stimmtheit suchten, verkehrt wurde. Im Interesse des allgemein Menschlichen,
das allein Gegenstand der Kunst sein dürfe, protestirten sie gegen die geschichtliche
Bestimmtheit der dramatischen Figuren, aus denen doch nur gebrochene Charaktere
hervorgehen könnten. Planche schlägt deu umgekehrtem Weg ein. Er tadelt die
Romantiker uicht, daß sie sich überhaupt in die Details historischer Zustände ver¬
tiefe, soudern daß sie es uicht mit dem gehörigen Ernst thun. Verständen sie
es, die Verhältnisse einer bestimmten Zeit in ihrer vollen Breite und Tiefe zu
umfassen, so würden die Resultate dieser Verhältnisse, die historischen Figuren, anf¬
rören, Zerrbilder zu sein; sie würden, allerdings auf dem Umwege der zeitlichen
Bestimmtheit, wieder in die Idealität des allgemein Menschlichen zurückkehren.


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[0482] an Confusion, Schwulstund eitler Faselei nicht nachstehen, wenn es die französische Sprache uicht unmöglich machte, reinen Unsinn zu reden. Planche und Nisard siud sehr verständige, klare und nüchterne Denker; aber uicht vou jeuer Nüchternheit, die aus Schwäche und Leere entspringt, sMderu von jener, die gleichbedeutend ist mit Besonnenheit, und die sich von der Mannig¬ faltigkeit der Eindrücke und Gesichtspunkte uicht überwältigen und verwirren läßt. Nisard, der in seiner Literaturgeschichte so weit geht, Boileau's povUquL für eine völlig erschöpfende Kritik der gesammten vorhergehenden Literatur zu erklären, welche die späteren Untersuchungen näher erörtern und begründen, aber nicht ver¬ ändern, nicht einmal mehr erweitern könnten, der in Racine das Maximum aller dramatischen Poesie sieht, gegen welches Shakespeare, die Deutschen und die mo¬ dernen Franzosen nur Stümper wären — ist darum uicht unempfänglich für Para¬ doxen des Gedankens, für dreiste Charakteristik, für wilde Ausbrüche der Leidenschaft in der Poesie; er fordert nnr für den Gedanken Bestimmtheit, für die Charak¬ teristik plastisches Maß, für die Leidenschaft Concentration und Festhalten am Gesetz der Stimmung; er kämpft gegen jene Zerstreutheit in, den Gedanken, Empfindungen und Thaten, die neugierig vou einem Gegenstand.zum andern flattert und sich zuletzt in Kuriositäten und Aeußerlichkeiten verliert. Ich bin weit entfernt, in jenen beideu Schriftstellern das höchste Ideal der Kritik zu verehren, aber mau kauu unendlich viel mehr ans ihnen lernen, als von einem Hundert jeuer belletristischen Feuilleton-Kritiker, die aus dein Esprit ein Geschäft machen. Planche, der seit zwanzig Jahren in der Revue des äeux monäes — in welcher Anfangs die Romantik nud ihre Apostel, Se.-Beuve u. s. w., das große Wort führten — als unermüdlicher Quälgeist die Ausschweifungen der jungen Schule verfolgt, steht keineswegs ans dem Standpunkt der aristotelischen Einheit und der Napoleonischen Klassicität. Diese hatten sich ein allgemeines Ideal von guten nud poetischen Menschen gebildet, das aus deu alten Schäferspieleu und Ritterromanen herrührte; sie waren darüber ungehalten, daß ihnen dieses Ideal durch die Abnormitäten der Geschichte, ans der die neuen Dichter ihre sittliche Be¬ stimmtheit suchten, verkehrt wurde. Im Interesse des allgemein Menschlichen, das allein Gegenstand der Kunst sein dürfe, protestirten sie gegen die geschichtliche Bestimmtheit der dramatischen Figuren, aus denen doch nur gebrochene Charaktere hervorgehen könnten. Planche schlägt deu umgekehrtem Weg ein. Er tadelt die Romantiker uicht, daß sie sich überhaupt in die Details historischer Zustände ver¬ tiefe, soudern daß sie es uicht mit dem gehörigen Ernst thun. Verständen sie es, die Verhältnisse einer bestimmten Zeit in ihrer vollen Breite und Tiefe zu umfassen, so würden die Resultate dieser Verhältnisse, die historischen Figuren, anf¬ rören, Zerrbilder zu sein; sie würden, allerdings auf dem Umwege der zeitlichen Bestimmtheit, wieder in die Idealität des allgemein Menschlichen zurückkehren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/482>, abgerufen am 25.08.2024.