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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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verführen lassen, den Pharisäer, der vorher ganz richtig als ein fanatischer Narr
geschildert wurde, plötzlich in einen wunderthuenden Märtyrer zu verwandeln.
Die Energie der jüdischen Religiosität hat er schon einmal, und besser, in der
Judith geschildert, und Dnplicatei sind von Uebel.

Sehr zu loben ist die Energie, mit welcher trotz der übertriebenen Zahl von
Nebenfiguren und Nebengeschichten die Hauptsache entwickelt wird. Das Gesetz
der Steigerung ist im Ganzen beobachtet, obgleich einige theatralische Ungeschicklich¬
keiten unterlaufen, z. B. der an sich nicht schlecht erdachte Einfall, die That und
alles was daran hängt, wiederholen zu lassen, macht dramatisch einen schlechten
Eindruck. Wenn man in dem nämlichen Stück denselben Effect zweimal spielen
läßt, so hebt man ihn auf. Aber noch mißlicher ist bei Hebbel, bei den raffi-
nirten Empfindungen, mit deuen er operirt, und bei der künstlich gesteigerten Hitze,
die er anwendet, die gekniffene, frostige Sprache der Reflexion, die man schon
beim Lesen mit der größten Anstrengung verfolgen muß, um sie in all ihren Be¬
ziehungen zu verstehen (bei einzelnen Stellen, z. B. p. 80, ist es mir trotz aller
Mühe nicht gelungen), die aber bei der Aufführung mit ihren Pointen vollstän¬
dig verloren geht. Solche Gegenstände werden nur zu ihrem Recht kommen,
wenn man der Gluth freien Lauf läßt, wenn ans dem Theater gerast und ge¬
tobt wird. Hebbel ist das nicht im Stande; er denkt und empfindet in Epigram¬
men; wenn die Schauspieler solchem Raffinement einen Ausdruck geben wollten,
so müßten sie sich in beständigen Gesichtskrämpfen bewegen. Die Genremalerei des
Details stört den Eindruck, der auf massenhafte große Züge, auf schreiende Far¬
ben berechnet ist.

In der Kühnheit der Empfindung steht Herodes der Judith und der Ge-
noveva bei weitem nach; in anderer Hinsicht ist es aber wieder ein Fortschritt;
es ist weniger Tollheit darin. Herodes ist besser als Holofernes, denn wir sehen
ihn werden, er wird uns nicht in der vollen Unmenschlichkeit octroyirt; dagegen
entspricht Marianne der Genoveva; eS sind sehr viele verschiedenartige Motive
in einander verwickelt, man merkt überall tiefgehende Intentionen, aber man
kommt zu keiner Totalanschauung; es siud immer nur einzelne Züge, kein voll¬
ständiges Bild.

Eine neue Figur dieses Drama's ist der römische- Hauptmann TiAuK, der
als unbetheiligt-er Beobachter und guter Jurist den griechischen Chor ersetzt. An
sich ist eine solche Person in der modernen Tragödie, wo sich daS Recht inner¬
halb der individuellen Conflicte dialektisch entwickeln soll, nicht zu billigen;
Hebbel aber sollte eine ähnliche in jedes seiner Stücke einzufügen suchen. Denn
bei dem Geschraubten seiner Ansprüche, dem subtilen seiner Reflexionen und
dem Wechsel in seinen Stimmungen wäre es nicht allein für das Publieum, wel¬
ches doch irgend einen Punkt haben will, all den es fein Rechtsgefühl anlehnen
kann, sondern für den Dichter selber heilsam, sich in einen nicht- an-ßerhnlb des


verführen lassen, den Pharisäer, der vorher ganz richtig als ein fanatischer Narr
geschildert wurde, plötzlich in einen wunderthuenden Märtyrer zu verwandeln.
Die Energie der jüdischen Religiosität hat er schon einmal, und besser, in der
Judith geschildert, und Dnplicatei sind von Uebel.

Sehr zu loben ist die Energie, mit welcher trotz der übertriebenen Zahl von
Nebenfiguren und Nebengeschichten die Hauptsache entwickelt wird. Das Gesetz
der Steigerung ist im Ganzen beobachtet, obgleich einige theatralische Ungeschicklich¬
keiten unterlaufen, z. B. der an sich nicht schlecht erdachte Einfall, die That und
alles was daran hängt, wiederholen zu lassen, macht dramatisch einen schlechten
Eindruck. Wenn man in dem nämlichen Stück denselben Effect zweimal spielen
läßt, so hebt man ihn auf. Aber noch mißlicher ist bei Hebbel, bei den raffi-
nirten Empfindungen, mit deuen er operirt, und bei der künstlich gesteigerten Hitze,
die er anwendet, die gekniffene, frostige Sprache der Reflexion, die man schon
beim Lesen mit der größten Anstrengung verfolgen muß, um sie in all ihren Be¬
ziehungen zu verstehen (bei einzelnen Stellen, z. B. p. 80, ist es mir trotz aller
Mühe nicht gelungen), die aber bei der Aufführung mit ihren Pointen vollstän¬
dig verloren geht. Solche Gegenstände werden nur zu ihrem Recht kommen,
wenn man der Gluth freien Lauf läßt, wenn ans dem Theater gerast und ge¬
tobt wird. Hebbel ist das nicht im Stande; er denkt und empfindet in Epigram¬
men; wenn die Schauspieler solchem Raffinement einen Ausdruck geben wollten,
so müßten sie sich in beständigen Gesichtskrämpfen bewegen. Die Genremalerei des
Details stört den Eindruck, der auf massenhafte große Züge, auf schreiende Far¬
ben berechnet ist.

In der Kühnheit der Empfindung steht Herodes der Judith und der Ge-
noveva bei weitem nach; in anderer Hinsicht ist es aber wieder ein Fortschritt;
es ist weniger Tollheit darin. Herodes ist besser als Holofernes, denn wir sehen
ihn werden, er wird uns nicht in der vollen Unmenschlichkeit octroyirt; dagegen
entspricht Marianne der Genoveva; eS sind sehr viele verschiedenartige Motive
in einander verwickelt, man merkt überall tiefgehende Intentionen, aber man
kommt zu keiner Totalanschauung; es siud immer nur einzelne Züge, kein voll¬
ständiges Bild.

Eine neue Figur dieses Drama's ist der römische- Hauptmann TiAuK, der
als unbetheiligt-er Beobachter und guter Jurist den griechischen Chor ersetzt. An
sich ist eine solche Person in der modernen Tragödie, wo sich daS Recht inner¬
halb der individuellen Conflicte dialektisch entwickeln soll, nicht zu billigen;
Hebbel aber sollte eine ähnliche in jedes seiner Stücke einzufügen suchen. Denn
bei dem Geschraubten seiner Ansprüche, dem subtilen seiner Reflexionen und
dem Wechsel in seinen Stimmungen wäre es nicht allein für das Publieum, wel¬
ches doch irgend einen Punkt haben will, all den es fein Rechtsgefühl anlehnen
kann, sondern für den Dichter selber heilsam, sich in einen nicht- an-ßerhnlb des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/445>, abgerufen am 24.08.2024.