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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Dichters -- daß Walter Scott ein großer Dichter war, werden unsere überweisen
Weltschmerzler und naturphilosophischen Belletristen kaum mehr zu bestreiten
wagen -- ist kunst immer hinreichend, die Berechtigung der Form zu begründen,
in welcher er sein Talent ausgeübt hat. Seit Walter Scott sind Legionen von
historischen Romanen geschrieben, aber kein einziger kann auch nur im Entfern¬
testen den Vergleich mit deu Waverley-Novellen aushalten; kein einziger läßt
das Unrecht vergessen, das darin liegt, historische Helden zu willkürlichen Fictionen
der dichterischen Phantasie herabzusetzen. Dieser Uebelstand, der bei einer der
geschichtlichen Darstellung so nahe verwandten Form, wie der Roman es ist, noch
viel mehr hervortreten muß, als bei dem Drama, das uns in eine ideale Welt
versetzt und uus zu wenig an die Realität des Lebens in ihren kleineren Be¬
ziehungen erinnert, um die wissenschaftliche Kritik herauszufordern, läßt sich weder
ableugnen, uoch durch die geschickteste Behandlung beseitigen. Wenn die Figuren
des historischen Romans Fictionen sind, nur im Geiste der geschilderten Zeit
gedacht und Träger der charakteristischen Bildung derselben, so lassen wir es uns
gefallen. Allein dabei bleibt es selten oder nie, denn um einem geschichtlichen
Zeitalter gerecht zu werden, muß der Dichter sich auf die Helden desselben, die
wir aus der Geschichte kennen, einlassen. Und wenn uns dann auch der Meister¬
pinsel eines Walter Scott die Ludwig XI., Cromwell, Elisabeth, Marie Stuart ze.
in so kühnen Umrissen, so scharfen Farben darstellt, wie es der gewöhnlichen
Geschichtschreibung kaum gelingen dürfte, so kommen wir doch über jenes Durch¬
einander von Wahrheit und Dichtung nicht hinaus, wir fragen stets, wo fängt
die Fabel an, wo die Geschichte?

Andererseits ist es nicht zu leugnen, daß die Aufgabe des historischen Ro-
mans: ein Zeitalter in der Totalität seiner Lebensbeziehungen zu schildern, durch
die Geschichtschreibung selbst wenigstens in einer künstlerischen Form nicht gelöst
werden kann. Angeregt durch den historischen Roman, hat man es zwar in
neuerer Zeit versucht; man hat die individuellen Schicksale der einzelnen Personen,
ihre Portraits, die Sitten und Gebräuche, ja das Costüm der Zeit, ihre Literatur
und sonstige Bildung in den Faden der historischen Begebenheiten zu verweben
und das Ganze künstlerisch, novellistisch abzurunden gesucht. Thomas Carlyle's
Geschichte der französischen Revolution und Lamartine's Geschichte der Girondisten
sind Beispiele davon, aber freilich nicht sehr aufmunternde. Wenn z. B. Carlyle,
um seinem Publicum die Gleichzeitigkeit der Goethe'schen Dichtung mit den fran¬
zösischen Feldzügen zu versinnlichen, die Theilnahme Goethe's an der Campagne
von 1792 und dessen Memoiren benutzt, um bei dieser Gelegenheit einige Aper^us
über Goethe zu geben, und durch deu Contrast eines mit den Studien über die
Farbenlehre beschäftigten Dichters und der wilden politischen und militärischen
Bewegung zu wirken, so ist dieses Verfahren eben so unkünstlerisch als unwissen¬
schaftlich, denn es zerstreut die Aufmerksamkeit und gibt in der Episode doch


Dichters — daß Walter Scott ein großer Dichter war, werden unsere überweisen
Weltschmerzler und naturphilosophischen Belletristen kaum mehr zu bestreiten
wagen — ist kunst immer hinreichend, die Berechtigung der Form zu begründen,
in welcher er sein Talent ausgeübt hat. Seit Walter Scott sind Legionen von
historischen Romanen geschrieben, aber kein einziger kann auch nur im Entfern¬
testen den Vergleich mit deu Waverley-Novellen aushalten; kein einziger läßt
das Unrecht vergessen, das darin liegt, historische Helden zu willkürlichen Fictionen
der dichterischen Phantasie herabzusetzen. Dieser Uebelstand, der bei einer der
geschichtlichen Darstellung so nahe verwandten Form, wie der Roman es ist, noch
viel mehr hervortreten muß, als bei dem Drama, das uns in eine ideale Welt
versetzt und uus zu wenig an die Realität des Lebens in ihren kleineren Be¬
ziehungen erinnert, um die wissenschaftliche Kritik herauszufordern, läßt sich weder
ableugnen, uoch durch die geschickteste Behandlung beseitigen. Wenn die Figuren
des historischen Romans Fictionen sind, nur im Geiste der geschilderten Zeit
gedacht und Träger der charakteristischen Bildung derselben, so lassen wir es uns
gefallen. Allein dabei bleibt es selten oder nie, denn um einem geschichtlichen
Zeitalter gerecht zu werden, muß der Dichter sich auf die Helden desselben, die
wir aus der Geschichte kennen, einlassen. Und wenn uns dann auch der Meister¬
pinsel eines Walter Scott die Ludwig XI., Cromwell, Elisabeth, Marie Stuart ze.
in so kühnen Umrissen, so scharfen Farben darstellt, wie es der gewöhnlichen
Geschichtschreibung kaum gelingen dürfte, so kommen wir doch über jenes Durch¬
einander von Wahrheit und Dichtung nicht hinaus, wir fragen stets, wo fängt
die Fabel an, wo die Geschichte?

Andererseits ist es nicht zu leugnen, daß die Aufgabe des historischen Ro-
mans: ein Zeitalter in der Totalität seiner Lebensbeziehungen zu schildern, durch
die Geschichtschreibung selbst wenigstens in einer künstlerischen Form nicht gelöst
werden kann. Angeregt durch den historischen Roman, hat man es zwar in
neuerer Zeit versucht; man hat die individuellen Schicksale der einzelnen Personen,
ihre Portraits, die Sitten und Gebräuche, ja das Costüm der Zeit, ihre Literatur
und sonstige Bildung in den Faden der historischen Begebenheiten zu verweben
und das Ganze künstlerisch, novellistisch abzurunden gesucht. Thomas Carlyle's
Geschichte der französischen Revolution und Lamartine's Geschichte der Girondisten
sind Beispiele davon, aber freilich nicht sehr aufmunternde. Wenn z. B. Carlyle,
um seinem Publicum die Gleichzeitigkeit der Goethe'schen Dichtung mit den fran¬
zösischen Feldzügen zu versinnlichen, die Theilnahme Goethe's an der Campagne
von 1792 und dessen Memoiren benutzt, um bei dieser Gelegenheit einige Aper^us
über Goethe zu geben, und durch deu Contrast eines mit den Studien über die
Farbenlehre beschäftigten Dichters und der wilden politischen und militärischen
Bewegung zu wirken, so ist dieses Verfahren eben so unkünstlerisch als unwissen¬
schaftlich, denn es zerstreut die Aufmerksamkeit und gibt in der Episode doch


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[0370] Dichters — daß Walter Scott ein großer Dichter war, werden unsere überweisen Weltschmerzler und naturphilosophischen Belletristen kaum mehr zu bestreiten wagen — ist kunst immer hinreichend, die Berechtigung der Form zu begründen, in welcher er sein Talent ausgeübt hat. Seit Walter Scott sind Legionen von historischen Romanen geschrieben, aber kein einziger kann auch nur im Entfern¬ testen den Vergleich mit deu Waverley-Novellen aushalten; kein einziger läßt das Unrecht vergessen, das darin liegt, historische Helden zu willkürlichen Fictionen der dichterischen Phantasie herabzusetzen. Dieser Uebelstand, der bei einer der geschichtlichen Darstellung so nahe verwandten Form, wie der Roman es ist, noch viel mehr hervortreten muß, als bei dem Drama, das uns in eine ideale Welt versetzt und uus zu wenig an die Realität des Lebens in ihren kleineren Be¬ ziehungen erinnert, um die wissenschaftliche Kritik herauszufordern, läßt sich weder ableugnen, uoch durch die geschickteste Behandlung beseitigen. Wenn die Figuren des historischen Romans Fictionen sind, nur im Geiste der geschilderten Zeit gedacht und Träger der charakteristischen Bildung derselben, so lassen wir es uns gefallen. Allein dabei bleibt es selten oder nie, denn um einem geschichtlichen Zeitalter gerecht zu werden, muß der Dichter sich auf die Helden desselben, die wir aus der Geschichte kennen, einlassen. Und wenn uns dann auch der Meister¬ pinsel eines Walter Scott die Ludwig XI., Cromwell, Elisabeth, Marie Stuart ze. in so kühnen Umrissen, so scharfen Farben darstellt, wie es der gewöhnlichen Geschichtschreibung kaum gelingen dürfte, so kommen wir doch über jenes Durch¬ einander von Wahrheit und Dichtung nicht hinaus, wir fragen stets, wo fängt die Fabel an, wo die Geschichte? Andererseits ist es nicht zu leugnen, daß die Aufgabe des historischen Ro- mans: ein Zeitalter in der Totalität seiner Lebensbeziehungen zu schildern, durch die Geschichtschreibung selbst wenigstens in einer künstlerischen Form nicht gelöst werden kann. Angeregt durch den historischen Roman, hat man es zwar in neuerer Zeit versucht; man hat die individuellen Schicksale der einzelnen Personen, ihre Portraits, die Sitten und Gebräuche, ja das Costüm der Zeit, ihre Literatur und sonstige Bildung in den Faden der historischen Begebenheiten zu verweben und das Ganze künstlerisch, novellistisch abzurunden gesucht. Thomas Carlyle's Geschichte der französischen Revolution und Lamartine's Geschichte der Girondisten sind Beispiele davon, aber freilich nicht sehr aufmunternde. Wenn z. B. Carlyle, um seinem Publicum die Gleichzeitigkeit der Goethe'schen Dichtung mit den fran¬ zösischen Feldzügen zu versinnlichen, die Theilnahme Goethe's an der Campagne von 1792 und dessen Memoiren benutzt, um bei dieser Gelegenheit einige Aper^us über Goethe zu geben, und durch deu Contrast eines mit den Studien über die Farbenlehre beschäftigten Dichters und der wilden politischen und militärischen Bewegung zu wirken, so ist dieses Verfahren eben so unkünstlerisch als unwissen¬ schaftlich, denn es zerstreut die Aufmerksamkeit und gibt in der Episode doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/370>, abgerufen am 22.07.2024.