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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Empfindsamkeit, daß die dichterische Umwandlung unverkennbar ist, selbst die mit¬
getheilten Briefe anderer Personen tragen zu sehr das Gepräge seines eigenen
Stils, um als historische Documente gelten zu können. Es sind novellistische
Versuche, die zum Theil mit einer sehr glücklichen Anlage anfangen, aber im
Schwulst erstickt werden, und in einem eitlen, herzlosen Egoismus untergehen.
Keine vou ihnen erreicht an Interesse die liebliche Episode der Graziella ans den
frühern Bekenntnissen, obgleich anch die Mittheilung dieser traurigen Begebenheit,
wenn sie wahr ist, dem koketten Antobiographen nicht eben zur Ehre gereicht.
Es scheint mir, daß in der Mittheilung erlebter Herzensgeschichten Göthe's
Wahrheit und Dichtung noch immer dasjenige Buch ist, welches den meisten Tact
zeigt.

Der Cor8oiIIei' an ?eup!o ist, so zu sagen, die zweite Auflage der verschie¬
denartigen Reden, welche Herr v. Lamartine seit seiner vierjährigen parlamen¬
tarischen Wirksamkeit gehalten hat. Er ist in demselben erbaulich-prophetisch¬
belletristischen Ton, der die frühere Politik des Verfassers auszeichnet, seine ans
der Reise nach dem Orient concivirten Visionen über eine politische Verbindung
des Ostens mit dem Westen mit einbegriffen; eine Geschichtsphilosophie für das
Volk, die ein solches Auditorium freilich nicht zu widerlegen weiß, ans der aber
in der Praxis nichts zu machen ist. Der einzige rothe Faden, der sich durch
diese Visionen zieht, ist das Eingeständniß, daß es eigentlich in Frankreich nur
Einen Mann gebe, der die große Aufgabe der Zukunft zu begreifen und auszu¬
führen im Stande sei: Herrn v. Lamartine. Und da ein beständiges Selbstlob
des Verfassers dem Publicum doch zu einförmig werden könnte, so sorgt dieser
dasür, daß zuweilen in seinem eigenen Journal ein Anderer auftritt und erklärt,
er könne sich uicht helfen, Herr v. Lamartine sei doch der größte Mann des
Jahrhunderts. Im Uebrigen eine vollkommene, lächelnde Toleranz gegen alte
Personen und Systeme; eine Toleranz, die um so höher anzuschlagen ist, je
weniger ihr ein gründliches Studium über die beurtheilten Gegenstände voran¬
geht, die sich aber eben darum dem Uebelstand aussetzt, von allen Seiten ein
sehr derbes Dementi zu erhalten.

Lamartine's Zeit ist vorüber. Seine Gedanken sind von ziemlich allen Par¬
teien in ihrer Hohlheit durchschaut; die sonoren Banalitäten, die er in beständiger
Variation wiederholt, finden nirgend mehr Anklang, und seine Person hat er
selber mit so viel Zudringlichkeit zur Schau getragen, daß auch ein nicht beson¬
ders begabter Verstand sich über den Werth derselben nicht länger täuschen kann.

Die letzte Nummer des Journals, die mir zu Gesicht gekommen ist, bietet wieder
ein Interesse in anderer Beziehung. Herr von Lamartine hat in diesen Tagen
eine Reise nach England gemacht, und theilt die Beobachtungen derselben seinen
Lesern mit. Schon früher hat er sich zweimal dort aufgehalten: 1822 und 1830;
beidemale war er durch den gedrückten Zustand der untern Volksclasse so erschreckt


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Empfindsamkeit, daß die dichterische Umwandlung unverkennbar ist, selbst die mit¬
getheilten Briefe anderer Personen tragen zu sehr das Gepräge seines eigenen
Stils, um als historische Documente gelten zu können. Es sind novellistische
Versuche, die zum Theil mit einer sehr glücklichen Anlage anfangen, aber im
Schwulst erstickt werden, und in einem eitlen, herzlosen Egoismus untergehen.
Keine vou ihnen erreicht an Interesse die liebliche Episode der Graziella ans den
frühern Bekenntnissen, obgleich anch die Mittheilung dieser traurigen Begebenheit,
wenn sie wahr ist, dem koketten Antobiographen nicht eben zur Ehre gereicht.
Es scheint mir, daß in der Mittheilung erlebter Herzensgeschichten Göthe's
Wahrheit und Dichtung noch immer dasjenige Buch ist, welches den meisten Tact
zeigt.

Der Cor8oiIIei' an ?eup!o ist, so zu sagen, die zweite Auflage der verschie¬
denartigen Reden, welche Herr v. Lamartine seit seiner vierjährigen parlamen¬
tarischen Wirksamkeit gehalten hat. Er ist in demselben erbaulich-prophetisch¬
belletristischen Ton, der die frühere Politik des Verfassers auszeichnet, seine ans
der Reise nach dem Orient concivirten Visionen über eine politische Verbindung
des Ostens mit dem Westen mit einbegriffen; eine Geschichtsphilosophie für das
Volk, die ein solches Auditorium freilich nicht zu widerlegen weiß, ans der aber
in der Praxis nichts zu machen ist. Der einzige rothe Faden, der sich durch
diese Visionen zieht, ist das Eingeständniß, daß es eigentlich in Frankreich nur
Einen Mann gebe, der die große Aufgabe der Zukunft zu begreifen und auszu¬
führen im Stande sei: Herrn v. Lamartine. Und da ein beständiges Selbstlob
des Verfassers dem Publicum doch zu einförmig werden könnte, so sorgt dieser
dasür, daß zuweilen in seinem eigenen Journal ein Anderer auftritt und erklärt,
er könne sich uicht helfen, Herr v. Lamartine sei doch der größte Mann des
Jahrhunderts. Im Uebrigen eine vollkommene, lächelnde Toleranz gegen alte
Personen und Systeme; eine Toleranz, die um so höher anzuschlagen ist, je
weniger ihr ein gründliches Studium über die beurtheilten Gegenstände voran¬
geht, die sich aber eben darum dem Uebelstand aussetzt, von allen Seiten ein
sehr derbes Dementi zu erhalten.

Lamartine's Zeit ist vorüber. Seine Gedanken sind von ziemlich allen Par¬
teien in ihrer Hohlheit durchschaut; die sonoren Banalitäten, die er in beständiger
Variation wiederholt, finden nirgend mehr Anklang, und seine Person hat er
selber mit so viel Zudringlichkeit zur Schau getragen, daß auch ein nicht beson¬
ders begabter Verstand sich über den Werth derselben nicht länger täuschen kann.

Die letzte Nummer des Journals, die mir zu Gesicht gekommen ist, bietet wieder
ein Interesse in anderer Beziehung. Herr von Lamartine hat in diesen Tagen
eine Reise nach England gemacht, und theilt die Beobachtungen derselben seinen
Lesern mit. Schon früher hat er sich zweimal dort aufgehalten: 1822 und 1830;
beidemale war er durch den gedrückten Zustand der untern Volksclasse so erschreckt


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[0339] Empfindsamkeit, daß die dichterische Umwandlung unverkennbar ist, selbst die mit¬ getheilten Briefe anderer Personen tragen zu sehr das Gepräge seines eigenen Stils, um als historische Documente gelten zu können. Es sind novellistische Versuche, die zum Theil mit einer sehr glücklichen Anlage anfangen, aber im Schwulst erstickt werden, und in einem eitlen, herzlosen Egoismus untergehen. Keine vou ihnen erreicht an Interesse die liebliche Episode der Graziella ans den frühern Bekenntnissen, obgleich anch die Mittheilung dieser traurigen Begebenheit, wenn sie wahr ist, dem koketten Antobiographen nicht eben zur Ehre gereicht. Es scheint mir, daß in der Mittheilung erlebter Herzensgeschichten Göthe's Wahrheit und Dichtung noch immer dasjenige Buch ist, welches den meisten Tact zeigt. Der Cor8oiIIei' an ?eup!o ist, so zu sagen, die zweite Auflage der verschie¬ denartigen Reden, welche Herr v. Lamartine seit seiner vierjährigen parlamen¬ tarischen Wirksamkeit gehalten hat. Er ist in demselben erbaulich-prophetisch¬ belletristischen Ton, der die frühere Politik des Verfassers auszeichnet, seine ans der Reise nach dem Orient concivirten Visionen über eine politische Verbindung des Ostens mit dem Westen mit einbegriffen; eine Geschichtsphilosophie für das Volk, die ein solches Auditorium freilich nicht zu widerlegen weiß, ans der aber in der Praxis nichts zu machen ist. Der einzige rothe Faden, der sich durch diese Visionen zieht, ist das Eingeständniß, daß es eigentlich in Frankreich nur Einen Mann gebe, der die große Aufgabe der Zukunft zu begreifen und auszu¬ führen im Stande sei: Herrn v. Lamartine. Und da ein beständiges Selbstlob des Verfassers dem Publicum doch zu einförmig werden könnte, so sorgt dieser dasür, daß zuweilen in seinem eigenen Journal ein Anderer auftritt und erklärt, er könne sich uicht helfen, Herr v. Lamartine sei doch der größte Mann des Jahrhunderts. Im Uebrigen eine vollkommene, lächelnde Toleranz gegen alte Personen und Systeme; eine Toleranz, die um so höher anzuschlagen ist, je weniger ihr ein gründliches Studium über die beurtheilten Gegenstände voran¬ geht, die sich aber eben darum dem Uebelstand aussetzt, von allen Seiten ein sehr derbes Dementi zu erhalten. Lamartine's Zeit ist vorüber. Seine Gedanken sind von ziemlich allen Par¬ teien in ihrer Hohlheit durchschaut; die sonoren Banalitäten, die er in beständiger Variation wiederholt, finden nirgend mehr Anklang, und seine Person hat er selber mit so viel Zudringlichkeit zur Schau getragen, daß auch ein nicht beson¬ ders begabter Verstand sich über den Werth derselben nicht länger täuschen kann. Die letzte Nummer des Journals, die mir zu Gesicht gekommen ist, bietet wieder ein Interesse in anderer Beziehung. Herr von Lamartine hat in diesen Tagen eine Reise nach England gemacht, und theilt die Beobachtungen derselben seinen Lesern mit. Schon früher hat er sich zweimal dort aufgehalten: 1822 und 1830; beidemale war er durch den gedrückten Zustand der untern Volksclasse so erschreckt 107*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/339>, abgerufen am 22.07.2024.