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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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gemeinen Literaturgeschichte von Schiller die Rede sein wird, so kann damit nur
die Zeit seines gemeinsamen Wirkens mit Göthe gemeint sein, die Zeit von 579-4
bis 1805. Ans diese beschränkt sich der gegenwärtige Aufsatz.

Ich spreche zuerst vou dem Inhalt seiner Poesie.

Die große leitende Idee jener Entwickelungsperiode, als deren vorzüglichste
Repräsentanten neben Lessing, Göthe und Schiller wir vielleicht am nächsten noch
Herder und Schleiermacher nennen könnten, die eben so von den Philosophen
der Zeit, wenn anch in einer durch die Formeu des abstracten Denkens bedingten
Weise verfolgt wurde, die sich selbst, wenn auch sehr trübe und gebrochen, in den
wunderlichen Compositionen der gleichzeitigen romantischen Schule ausspricht, war
die Idee der Humanität.

Daß dieses Ideal, zu dessen classischer Form unsere sittlich und ästhetisch
zerfahrene Zeit hinausblicken muß, dennoch uicht ganz das unsere sein kann, daß
es sich nicht nur dem Grad, sondern dem Wesen nach von der Aufgabe, die wir
uns scheu müssen, unterscheidet, liegt hauptsächlich in zwei Gründen.

Einmal war jene Blüthe der Poesie, deren wir. uns an Schiller und
Göthe erfreuen, nicht anf dem heimischen Boden gewachsen; sie war theils ans
der griechischen, theils aus der gothischem Bildung entlehnt. Der daraus her¬
vorgehende Humanismus war nicht national, sondern kosmopolitisch; sein Auf¬
treten uicht energisch, sondern tolerant.

Sodann waren alle Sympathien der neuen Bildung gegen die Formen
gerichtet, die deu deutscheu Geist bisher erzogen, aber auch gebunden hatten:
gegen die französische Aufklärung, die in ihrer Art auch eine Form der Huma¬
nität war, und besonders gegen ihre materialistische Zweckmäßigkeitslehre, ihre
gleichmäßige, conventionelle, gesellschaftlich verständige Kunstform, und gegen ihren
Nationalismus im Gebiet der Poesie. Sie ergab sich im Gegensatz zu dieser nur mit
halbem Rechte angefochtenen Bildung dem Cultus der freien, durch eignes Maß,
nicht durch sittliche Baude beschränkten Individualität, des vou der Wirklichkeit
gelösten Ideals (des Reiches der Schatten), und einem dnrch die Reaction gegen
die nüchterne Verstandeswirthschaft erhitzten, vergeistigter Denken und Fühlen,
das etwas in's Mystische spielte, wie auch die gleichzeitige Philosophie, die sich
die Existenz der Welt erst beweisen wollte, weil ihr die Gewalt des eigeuen mo-
ralischen Gefühls die einzige unmittelbare Gewißheit war.

Beides will ich im Einzelnen, wenn auch nnr andeutungsweise, bei unserm
Dichter begründen.

Schon Schiller's Gedichte geben einen Orbis piews verschiedenartiger Vor¬
stellungen, bei deuen es nicht leicht wird, die leitende Grundfarbe zu finden.
Zwar herrscht die griechische Bildung vor; uicht allein breitet sich die Mythologie
zuweilen ans etwas unbequeme Weise aus, z. B. in einzelnen Versen der Götter
Griechenlands, wo sie einigemal geradezu zur Nomenclatur ausartet - - ein Fehler,


gemeinen Literaturgeschichte von Schiller die Rede sein wird, so kann damit nur
die Zeit seines gemeinsamen Wirkens mit Göthe gemeint sein, die Zeit von 579-4
bis 1805. Ans diese beschränkt sich der gegenwärtige Aufsatz.

Ich spreche zuerst vou dem Inhalt seiner Poesie.

Die große leitende Idee jener Entwickelungsperiode, als deren vorzüglichste
Repräsentanten neben Lessing, Göthe und Schiller wir vielleicht am nächsten noch
Herder und Schleiermacher nennen könnten, die eben so von den Philosophen
der Zeit, wenn anch in einer durch die Formeu des abstracten Denkens bedingten
Weise verfolgt wurde, die sich selbst, wenn auch sehr trübe und gebrochen, in den
wunderlichen Compositionen der gleichzeitigen romantischen Schule ausspricht, war
die Idee der Humanität.

Daß dieses Ideal, zu dessen classischer Form unsere sittlich und ästhetisch
zerfahrene Zeit hinausblicken muß, dennoch uicht ganz das unsere sein kann, daß
es sich nicht nur dem Grad, sondern dem Wesen nach von der Aufgabe, die wir
uns scheu müssen, unterscheidet, liegt hauptsächlich in zwei Gründen.

Einmal war jene Blüthe der Poesie, deren wir. uns an Schiller und
Göthe erfreuen, nicht anf dem heimischen Boden gewachsen; sie war theils ans
der griechischen, theils aus der gothischem Bildung entlehnt. Der daraus her¬
vorgehende Humanismus war nicht national, sondern kosmopolitisch; sein Auf¬
treten uicht energisch, sondern tolerant.

Sodann waren alle Sympathien der neuen Bildung gegen die Formen
gerichtet, die deu deutscheu Geist bisher erzogen, aber auch gebunden hatten:
gegen die französische Aufklärung, die in ihrer Art auch eine Form der Huma¬
nität war, und besonders gegen ihre materialistische Zweckmäßigkeitslehre, ihre
gleichmäßige, conventionelle, gesellschaftlich verständige Kunstform, und gegen ihren
Nationalismus im Gebiet der Poesie. Sie ergab sich im Gegensatz zu dieser nur mit
halbem Rechte angefochtenen Bildung dem Cultus der freien, durch eignes Maß,
nicht durch sittliche Baude beschränkten Individualität, des vou der Wirklichkeit
gelösten Ideals (des Reiches der Schatten), und einem dnrch die Reaction gegen
die nüchterne Verstandeswirthschaft erhitzten, vergeistigter Denken und Fühlen,
das etwas in's Mystische spielte, wie auch die gleichzeitige Philosophie, die sich
die Existenz der Welt erst beweisen wollte, weil ihr die Gewalt des eigeuen mo-
ralischen Gefühls die einzige unmittelbare Gewißheit war.

Beides will ich im Einzelnen, wenn auch nnr andeutungsweise, bei unserm
Dichter begründen.

Schon Schiller's Gedichte geben einen Orbis piews verschiedenartiger Vor¬
stellungen, bei deuen es nicht leicht wird, die leitende Grundfarbe zu finden.
Zwar herrscht die griechische Bildung vor; uicht allein breitet sich die Mythologie
zuweilen ans etwas unbequeme Weise aus, z. B. in einzelnen Versen der Götter
Griechenlands, wo sie einigemal geradezu zur Nomenclatur ausartet - - ein Fehler,


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[0290] gemeinen Literaturgeschichte von Schiller die Rede sein wird, so kann damit nur die Zeit seines gemeinsamen Wirkens mit Göthe gemeint sein, die Zeit von 579-4 bis 1805. Ans diese beschränkt sich der gegenwärtige Aufsatz. Ich spreche zuerst vou dem Inhalt seiner Poesie. Die große leitende Idee jener Entwickelungsperiode, als deren vorzüglichste Repräsentanten neben Lessing, Göthe und Schiller wir vielleicht am nächsten noch Herder und Schleiermacher nennen könnten, die eben so von den Philosophen der Zeit, wenn anch in einer durch die Formeu des abstracten Denkens bedingten Weise verfolgt wurde, die sich selbst, wenn auch sehr trübe und gebrochen, in den wunderlichen Compositionen der gleichzeitigen romantischen Schule ausspricht, war die Idee der Humanität. Daß dieses Ideal, zu dessen classischer Form unsere sittlich und ästhetisch zerfahrene Zeit hinausblicken muß, dennoch uicht ganz das unsere sein kann, daß es sich nicht nur dem Grad, sondern dem Wesen nach von der Aufgabe, die wir uns scheu müssen, unterscheidet, liegt hauptsächlich in zwei Gründen. Einmal war jene Blüthe der Poesie, deren wir. uns an Schiller und Göthe erfreuen, nicht anf dem heimischen Boden gewachsen; sie war theils ans der griechischen, theils aus der gothischem Bildung entlehnt. Der daraus her¬ vorgehende Humanismus war nicht national, sondern kosmopolitisch; sein Auf¬ treten uicht energisch, sondern tolerant. Sodann waren alle Sympathien der neuen Bildung gegen die Formen gerichtet, die deu deutscheu Geist bisher erzogen, aber auch gebunden hatten: gegen die französische Aufklärung, die in ihrer Art auch eine Form der Huma¬ nität war, und besonders gegen ihre materialistische Zweckmäßigkeitslehre, ihre gleichmäßige, conventionelle, gesellschaftlich verständige Kunstform, und gegen ihren Nationalismus im Gebiet der Poesie. Sie ergab sich im Gegensatz zu dieser nur mit halbem Rechte angefochtenen Bildung dem Cultus der freien, durch eignes Maß, nicht durch sittliche Baude beschränkten Individualität, des vou der Wirklichkeit gelösten Ideals (des Reiches der Schatten), und einem dnrch die Reaction gegen die nüchterne Verstandeswirthschaft erhitzten, vergeistigter Denken und Fühlen, das etwas in's Mystische spielte, wie auch die gleichzeitige Philosophie, die sich die Existenz der Welt erst beweisen wollte, weil ihr die Gewalt des eigeuen mo- ralischen Gefühls die einzige unmittelbare Gewißheit war. Beides will ich im Einzelnen, wenn auch nnr andeutungsweise, bei unserm Dichter begründen. Schon Schiller's Gedichte geben einen Orbis piews verschiedenartiger Vor¬ stellungen, bei deuen es nicht leicht wird, die leitende Grundfarbe zu finden. Zwar herrscht die griechische Bildung vor; uicht allein breitet sich die Mythologie zuweilen ans etwas unbequeme Weise aus, z. B. in einzelnen Versen der Götter Griechenlands, wo sie einigemal geradezu zur Nomenclatur ausartet - - ein Fehler,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/290>, abgerufen am 24.08.2024.