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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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livrer zu haben. So ist es unserer romantischen Schule ergangen, die mit
Hieroglyphen angefangen und mit einem ästhetischen Nihilismus geschlossen hat.

Wir wollen aber den Dichter über dem Theoretiker nicht leiden lassen. Wir
wollen von seiner Theorie, die wenigstens in dem Umfange, den er ihr geben
möchte, unrichtig ist, abstrahiren, und uns an die Frage halten: welche Berech¬
tigung hat die dramatische Behandlung des Mährchens überhaupt? und wie weit
ist es Hebbel'gelungen, den Ton zu treffen, welchen das Genre erheischt? --

Das phantastische Drama hat, namentlich seil dem Anfang dieses Jahr¬
hunderts, die modernen Meistersänger ebenso beschäftigt als die volkstümlichen
Spruchsprecher und Pritscheumeister. Auf der einen Seite die Zauberflöte, das
Douauweibcheu und die ganze Reihe der Wiener Zanberopern und Localpossen,
bis neuerdings zur Noseufee, den Töchtern Lucifers u. f. w.; auf der andern
Tieck'ö Fortunat, Kaiser Octavianus (!804), Däumcheu, Oehlenschläger's Aladdin
(1898), Brentano's Gründung Prags (1807), mehrere kleine Versuche vou Arnim,
Svend Döring's Haus vou Hertz, vor Allem Schiller nicht zu vergessen, der in
seiner Bearbeitung von Gozzi's Turandot gleichfalls dem herrschenden Geschmack
gehuldigt hat.

Es ist ein nicht seltenes, aber darum uicht minder handgreifliches Vorurtheil,
daß man die naiven Formen der Voltslustbarkeit durch Einführung eiues höhern
Grades von Bildung veredeln und dadurch bessern könnte. Zu gewissen Dingen
gehört ein gewisser Grad von Einfalt, sonst werden sie widerwärtig.

Warum benutzt die Localposse, die Zauberoper das Mährchen? Weil in
demselben die Phantasie frei schaltet und waltet, weil sie dreistere schwanke, über¬
raschendere Verwandlungen darin anbringen kann. Allerdings ist auch schon das
eine Verschlechterung des Ammenmährcheus, deun das Gesinde und was sonst
das Publicum der Zanberpoffe ausmacht, steht im Verhältniß zu dem eigentlichen
Mährchenpublicum, der Kinderwelt, schon auf dem Standpunkt einer reflectirten
Bildung. Der Schwank wird schon zur Zote, das freie Spiel der Phantasie,
die sich an die Grenzen des Möglichen und Wahrscheinlichen darum nicht bindet,
weil sie dieselben noch gar nicht keimt, zur reflectirten Albernheit. -- Wenn aber
von Kreisen höherer Bildung aus einem andern Grund, als dem der bloßen Neu-
gier, dergleichen cultivirt wird, so ist das schon ein bedenkliches Zeichen von
Ueberreizung und Verwilderung des Geschmacks.

Wenn der gebildete Dichter sich auch noch so fest vornimmt, ans den Voraus¬
setzungen seiner Bildung herauszutreten, und sie völlig zu vergessen, so gelingt
es ihm doch nicht ganz; er muß motiviren, näher ausführen, muß Streiflichter
werfen auf die Cultur, der er entflieht, ironischer oder sentimentaler Art. Ans
dem Wunder wird ein unheimliches Hexenwerk, aus der Willkür haarsträubende
Barbarei.*) Eine unserer Bildungsstufe vollkommen fremde Moral wird für



Vgl. weine Recension über Svend Dyring'ö Haus, 1848 Heft 50.
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livrer zu haben. So ist es unserer romantischen Schule ergangen, die mit
Hieroglyphen angefangen und mit einem ästhetischen Nihilismus geschlossen hat.

Wir wollen aber den Dichter über dem Theoretiker nicht leiden lassen. Wir
wollen von seiner Theorie, die wenigstens in dem Umfange, den er ihr geben
möchte, unrichtig ist, abstrahiren, und uns an die Frage halten: welche Berech¬
tigung hat die dramatische Behandlung des Mährchens überhaupt? und wie weit
ist es Hebbel'gelungen, den Ton zu treffen, welchen das Genre erheischt? —

Das phantastische Drama hat, namentlich seil dem Anfang dieses Jahr¬
hunderts, die modernen Meistersänger ebenso beschäftigt als die volkstümlichen
Spruchsprecher und Pritscheumeister. Auf der einen Seite die Zauberflöte, das
Douauweibcheu und die ganze Reihe der Wiener Zanberopern und Localpossen,
bis neuerdings zur Noseufee, den Töchtern Lucifers u. f. w.; auf der andern
Tieck'ö Fortunat, Kaiser Octavianus (!804), Däumcheu, Oehlenschläger's Aladdin
(1898), Brentano's Gründung Prags (1807), mehrere kleine Versuche vou Arnim,
Svend Döring's Haus vou Hertz, vor Allem Schiller nicht zu vergessen, der in
seiner Bearbeitung von Gozzi's Turandot gleichfalls dem herrschenden Geschmack
gehuldigt hat.

Es ist ein nicht seltenes, aber darum uicht minder handgreifliches Vorurtheil,
daß man die naiven Formen der Voltslustbarkeit durch Einführung eiues höhern
Grades von Bildung veredeln und dadurch bessern könnte. Zu gewissen Dingen
gehört ein gewisser Grad von Einfalt, sonst werden sie widerwärtig.

Warum benutzt die Localposse, die Zauberoper das Mährchen? Weil in
demselben die Phantasie frei schaltet und waltet, weil sie dreistere schwanke, über¬
raschendere Verwandlungen darin anbringen kann. Allerdings ist auch schon das
eine Verschlechterung des Ammenmährcheus, deun das Gesinde und was sonst
das Publicum der Zanberpoffe ausmacht, steht im Verhältniß zu dem eigentlichen
Mährchenpublicum, der Kinderwelt, schon auf dem Standpunkt einer reflectirten
Bildung. Der Schwank wird schon zur Zote, das freie Spiel der Phantasie,
die sich an die Grenzen des Möglichen und Wahrscheinlichen darum nicht bindet,
weil sie dieselben noch gar nicht keimt, zur reflectirten Albernheit. — Wenn aber
von Kreisen höherer Bildung aus einem andern Grund, als dem der bloßen Neu-
gier, dergleichen cultivirt wird, so ist das schon ein bedenkliches Zeichen von
Ueberreizung und Verwilderung des Geschmacks.

Wenn der gebildete Dichter sich auch noch so fest vornimmt, ans den Voraus¬
setzungen seiner Bildung herauszutreten, und sie völlig zu vergessen, so gelingt
es ihm doch nicht ganz; er muß motiviren, näher ausführen, muß Streiflichter
werfen auf die Cultur, der er entflieht, ironischer oder sentimentaler Art. Ans
dem Wunder wird ein unheimliches Hexenwerk, aus der Willkür haarsträubende
Barbarei.*) Eine unserer Bildungsstufe vollkommen fremde Moral wird für



Vgl. weine Recension über Svend Dyring'ö Haus, 1848 Heft 50.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/259>, abgerufen am 22.07.2024.