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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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Vorstellungen und Stimmungen entwickeln sich organisch aus der Ader eiues in-
dividuellen Lebens.

Jener Glaube, so ängstlich er sich an eine vermeintliche Thatsache klammert,
ist doch nichts als ein Product des subjectiven Bedürfnisses. Wenn die Lelia
der G. Saud in der Verzweiflung stehen bleibt, die Corinna der Frau v. Stavl
jene gesuchte Idealität im irdischen Glück ausbreitet, so ändert das im Wesen
der Sache nichts.

ES ist in jenen Schriftstellern eine wunderbare Mischung vou scharfem, blen¬
dendem Verstand nud trüber Mystik; vou tiefem, glühendem Gefühl nud zaghafter
Reflexion, die diesem Gefühl die Freiheit verkümmert. Das ist die Natur der
maßlosen Subjektivität; ihre krampfhaften Anstrengungen, sich über die irdische
Bedingtheit zu erheben, verwickeln sie immer tiefer in das Netz der irdischen
Widersprüche. -- So ist es auch hier. Zuweilen ein überraschender, ergreifender
Zug des Herzens uach unbedingter Wahrheit, die mit einer schneidenden, harten
Kälte der Empfindungen zersetzt, nud dann wieder eine träge Schwärmerei, die
sich geradezu in Affectation und Manier verliert; ein zartes, bis zur Paradoxe
feines Gefühl für die intimen Seiten des menschlichen Herzens und gleich
darauf eine bigotte Verleugnung der Natur, die so weit geht, daß die Kindes¬
liebe sich selber als schuldig bekennt, weil man über die Liebe zum Geschöpf den
Schöpfer aus deu Augen lasse.

An eine Gewißheit des Glaubens ist eigentlich nicht zu denken. Die Angst
des Scepticismus treibt sich in eine Wärme, die krankhaft ist. Die beständige
Schwelgerei in Seelenzuständen führt zu einem Raffinement, das zuletzt die Wahr¬
heit aufhebt. Es ist doch ein Luxus der Empfindung, der das Wesen des Her¬
zens nicht mehr berührt. Es ist ein Spiel des Geistes mit sich selbst, wenn anch
nicht ohne Schmerzen. Wäre nicht das künstliche Festhalten an der äußerlich
hinzutretender Erlösung, die doch immer kein natürlicher Mittelpunkt für die
Seele sein kann, so würde diese bei ihrer Virtuosität des Empfindens in jenes
Chaos der Willkür versinken, das zur Blasirtheit führt, wie beider Hahn-Hahn,



*) Ich kann mich nicht enthalten, Einiges anzuführen: (p. 1l>.) "Es gibt keinen leichtern
Augenblick, als den, in welchem die Aussicht auf Schmerzen wie auf Freuden gleich nahe ist.
Die Eutfernung, welche die erstem vermindert, vergrößert die letzter": sie entrückt uns
zugleich die genane Einsicht in das Unglück und die Zerstückelung unserer Freuden. Nicht
das Unglück als Ganzes verursacht Schmerzen, sondern die einzelnen Umstände desselben;
uns genügt nicht eine Freude, um uns glücklich zu machen, wir müßten alle in jedem
Augenblick haben." -- "Die höchste Anstrengung der Liebe ist, die Forderungen des Herzens
zum Schweigen zu bringen." -- "Wenn man tiefe Regungen empfindet, bebt man vor dem
Gedanken zurück, Uneingeweihte könnten sie mit andern, wesentlich von ihnen verschiedenen,
obgleich in ähnlichem Gewände auftretenden verwechseln. Man hat das Bedürfniß, bis in
das Einzelnste verstanden zu werden, und durch wen wäre das möglich, außer durch den, der
uns Neigung einflößt?" -- Eine Sterbende sagt: "Mein Geist ist nicht klar genug, um ihn
zu verstehen. Ach es ist so demüthigend, zu sterben!"

Vorstellungen und Stimmungen entwickeln sich organisch aus der Ader eiues in-
dividuellen Lebens.

Jener Glaube, so ängstlich er sich an eine vermeintliche Thatsache klammert,
ist doch nichts als ein Product des subjectiven Bedürfnisses. Wenn die Lelia
der G. Saud in der Verzweiflung stehen bleibt, die Corinna der Frau v. Stavl
jene gesuchte Idealität im irdischen Glück ausbreitet, so ändert das im Wesen
der Sache nichts.

ES ist in jenen Schriftstellern eine wunderbare Mischung vou scharfem, blen¬
dendem Verstand nud trüber Mystik; vou tiefem, glühendem Gefühl nud zaghafter
Reflexion, die diesem Gefühl die Freiheit verkümmert. Das ist die Natur der
maßlosen Subjektivität; ihre krampfhaften Anstrengungen, sich über die irdische
Bedingtheit zu erheben, verwickeln sie immer tiefer in das Netz der irdischen
Widersprüche. — So ist es auch hier. Zuweilen ein überraschender, ergreifender
Zug des Herzens uach unbedingter Wahrheit, die mit einer schneidenden, harten
Kälte der Empfindungen zersetzt, nud dann wieder eine träge Schwärmerei, die
sich geradezu in Affectation und Manier verliert; ein zartes, bis zur Paradoxe
feines Gefühl für die intimen Seiten des menschlichen Herzens und gleich
darauf eine bigotte Verleugnung der Natur, die so weit geht, daß die Kindes¬
liebe sich selber als schuldig bekennt, weil man über die Liebe zum Geschöpf den
Schöpfer aus deu Augen lasse.

An eine Gewißheit des Glaubens ist eigentlich nicht zu denken. Die Angst
des Scepticismus treibt sich in eine Wärme, die krankhaft ist. Die beständige
Schwelgerei in Seelenzuständen führt zu einem Raffinement, das zuletzt die Wahr¬
heit aufhebt. Es ist doch ein Luxus der Empfindung, der das Wesen des Her¬
zens nicht mehr berührt. Es ist ein Spiel des Geistes mit sich selbst, wenn anch
nicht ohne Schmerzen. Wäre nicht das künstliche Festhalten an der äußerlich
hinzutretender Erlösung, die doch immer kein natürlicher Mittelpunkt für die
Seele sein kann, so würde diese bei ihrer Virtuosität des Empfindens in jenes
Chaos der Willkür versinken, das zur Blasirtheit führt, wie beider Hahn-Hahn,



*) Ich kann mich nicht enthalten, Einiges anzuführen: (p. 1l>.) „Es gibt keinen leichtern
Augenblick, als den, in welchem die Aussicht auf Schmerzen wie auf Freuden gleich nahe ist.
Die Eutfernung, welche die erstem vermindert, vergrößert die letzter«: sie entrückt uns
zugleich die genane Einsicht in das Unglück und die Zerstückelung unserer Freuden. Nicht
das Unglück als Ganzes verursacht Schmerzen, sondern die einzelnen Umstände desselben;
uns genügt nicht eine Freude, um uns glücklich zu machen, wir müßten alle in jedem
Augenblick haben." — „Die höchste Anstrengung der Liebe ist, die Forderungen des Herzens
zum Schweigen zu bringen." — „Wenn man tiefe Regungen empfindet, bebt man vor dem
Gedanken zurück, Uneingeweihte könnten sie mit andern, wesentlich von ihnen verschiedenen,
obgleich in ähnlichem Gewände auftretenden verwechseln. Man hat das Bedürfniß, bis in
das Einzelnste verstanden zu werden, und durch wen wäre das möglich, außer durch den, der
uns Neigung einflößt?" — Eine Sterbende sagt: „Mein Geist ist nicht klar genug, um ihn
zu verstehen. Ach es ist so demüthigend, zu sterben!"
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[0022] Vorstellungen und Stimmungen entwickeln sich organisch aus der Ader eiues in- dividuellen Lebens. Jener Glaube, so ängstlich er sich an eine vermeintliche Thatsache klammert, ist doch nichts als ein Product des subjectiven Bedürfnisses. Wenn die Lelia der G. Saud in der Verzweiflung stehen bleibt, die Corinna der Frau v. Stavl jene gesuchte Idealität im irdischen Glück ausbreitet, so ändert das im Wesen der Sache nichts. ES ist in jenen Schriftstellern eine wunderbare Mischung vou scharfem, blen¬ dendem Verstand nud trüber Mystik; vou tiefem, glühendem Gefühl nud zaghafter Reflexion, die diesem Gefühl die Freiheit verkümmert. Das ist die Natur der maßlosen Subjektivität; ihre krampfhaften Anstrengungen, sich über die irdische Bedingtheit zu erheben, verwickeln sie immer tiefer in das Netz der irdischen Widersprüche. — So ist es auch hier. Zuweilen ein überraschender, ergreifender Zug des Herzens uach unbedingter Wahrheit, die mit einer schneidenden, harten Kälte der Empfindungen zersetzt, nud dann wieder eine träge Schwärmerei, die sich geradezu in Affectation und Manier verliert; ein zartes, bis zur Paradoxe feines Gefühl für die intimen Seiten des menschlichen Herzens und gleich darauf eine bigotte Verleugnung der Natur, die so weit geht, daß die Kindes¬ liebe sich selber als schuldig bekennt, weil man über die Liebe zum Geschöpf den Schöpfer aus deu Augen lasse. An eine Gewißheit des Glaubens ist eigentlich nicht zu denken. Die Angst des Scepticismus treibt sich in eine Wärme, die krankhaft ist. Die beständige Schwelgerei in Seelenzuständen führt zu einem Raffinement, das zuletzt die Wahr¬ heit aufhebt. Es ist doch ein Luxus der Empfindung, der das Wesen des Her¬ zens nicht mehr berührt. Es ist ein Spiel des Geistes mit sich selbst, wenn anch nicht ohne Schmerzen. Wäre nicht das künstliche Festhalten an der äußerlich hinzutretender Erlösung, die doch immer kein natürlicher Mittelpunkt für die Seele sein kann, so würde diese bei ihrer Virtuosität des Empfindens in jenes Chaos der Willkür versinken, das zur Blasirtheit führt, wie beider Hahn-Hahn, *) Ich kann mich nicht enthalten, Einiges anzuführen: (p. 1l>.) „Es gibt keinen leichtern Augenblick, als den, in welchem die Aussicht auf Schmerzen wie auf Freuden gleich nahe ist. Die Eutfernung, welche die erstem vermindert, vergrößert die letzter«: sie entrückt uns zugleich die genane Einsicht in das Unglück und die Zerstückelung unserer Freuden. Nicht das Unglück als Ganzes verursacht Schmerzen, sondern die einzelnen Umstände desselben; uns genügt nicht eine Freude, um uns glücklich zu machen, wir müßten alle in jedem Augenblick haben." — „Die höchste Anstrengung der Liebe ist, die Forderungen des Herzens zum Schweigen zu bringen." — „Wenn man tiefe Regungen empfindet, bebt man vor dem Gedanken zurück, Uneingeweihte könnten sie mit andern, wesentlich von ihnen verschiedenen, obgleich in ähnlichem Gewände auftretenden verwechseln. Man hat das Bedürfniß, bis in das Einzelnste verstanden zu werden, und durch wen wäre das möglich, außer durch den, der uns Neigung einflößt?" — Eine Sterbende sagt: „Mein Geist ist nicht klar genug, um ihn zu verstehen. Ach es ist so demüthigend, zu sterben!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/22>, abgerufen am 24.08.2024.