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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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wurde, die Bedrängten gastfrenndschaftlich aufnahm, so daß die vereinzelt da¬
stehenden Judenverfolgungen in ewigen ungarischen Städten nur eine schwache
Nachahmung jener Menschenhetzen bildeten, die im mittelalterlichen Europa so
gewöhnlich waren.

Gegenwärtig kann man die Zahl der Juden in Ungarn und den Neben¬
ländern ans 400,000 angeben. Die große Mehrzahl wohnt im eigentlichen Ungarn;
eine nur geringe Anzahl lebt in Siebenbürgen, in Kroatien, Slavonien und der
Militärgrenze sitzen sie nur spärlich in einzelnen Städten; von den Bergstädten
sind sie bis jetzt noch gänzlich ausgeschlossen gewesen.

Ungarn war bis zum März 5848 das Laud Gösen in dem für Jakob's Enkel
zum zweiten Egypten gewordenen Kaiserstaate, denn in mehrern Provinzen des
eigentlichen Oestreichs, wie in Ober- und Unteröstreich, in Tyrol, Steiermark,
Kärnthen, Krain und Schlesien durften sie -- mit Ausnahme weniger Städte
und einiger patentirter Familien -- durchaus uicht wohnen; in den übrigen Pro¬
vinzen waren sie nicht nnr mit directen und indirecten, sogenannten Jndensteuern
belastet -- sie mußten an den Staat 4 Kr. Münze für das Schlachten eines
Huhns, 8 Kr. für eine Gans, 2 Kr. für jedes Pfund Koscher-Fleisch, 2 Kreuzer
für jedes am Freitag Abends angezündete Sabatlicht entrichten -- sondern auch
in bürgerlichem Erwerb und der Heirathsconcession sehr gedrückt. In Ungarn
kam ihnen die Mangelhaftigkeit der Einwanderuugsgesetze zu statte", und der
ungarische Edelmann, der auf seinem Grnnde ein unumschränkter Herr war, nahm
den gut und pünktlich zahlenden jüdischen Pächter gern ans, und schützte ihn sowohl
gegen die Reclamationen der erbländischen Behörden, die solche Auswanderer als
Militärflüchtliuge not Koscher-Fleisch-Consumenten zurückforderten, wie anch gegen
die Anfechtungen 'einheimischer Beamten, die ost im Interesse der polizeilichen
Ordnung, oft im Solde neidischer Krämer den Eindringling beunruhigten. Anders
verhielt es sich mit dem Bauern- und Bürgerstande; ersterer wollte die Juden
an dem Erwerb vou Grundeigenthum, letzterer an der Ausübung handwerklicher
Gewerbe hindern. -- Es war bei uns dafür gesorgt, daß jeder Stand seinen
eignen Druck vergessen konnte, indem ihm ein anderer Stand preisgegeben war,
an dem er sein Müthchen kühlen konnte. Die Regierung haßte den Magnaten,
der sich als constitutioneller Vasall geriren wollte; der Magnat verachtete den
Edelmann, der im Kotzenmantel seine goldenen Vorrechte theilte; der Edelmann
haßte den Bürger, der Geschmack für den Reichthum des Bodens, aber keinen
Sinn für die Größe seines Vaterlandes hatte; der Bürger verachtete den Bauer,
der sich ohne jedes Privilegium auf dieser Erde zu mehren willig war; und sie
Alle verachteten den Juden und deu Zigeuner, die Rechtlosen; beide Letztere ver¬
achteten sich gegenseitig und haßten nach oben hinauf bis zum höchsten Stande.

Die neuere Zeit brachte einige Modificationen in dieser Scala hervor, denn
die Reformbestrebungen Joseph's, das Toleranzedict, und die französischen Ideen


wurde, die Bedrängten gastfrenndschaftlich aufnahm, so daß die vereinzelt da¬
stehenden Judenverfolgungen in ewigen ungarischen Städten nur eine schwache
Nachahmung jener Menschenhetzen bildeten, die im mittelalterlichen Europa so
gewöhnlich waren.

Gegenwärtig kann man die Zahl der Juden in Ungarn und den Neben¬
ländern ans 400,000 angeben. Die große Mehrzahl wohnt im eigentlichen Ungarn;
eine nur geringe Anzahl lebt in Siebenbürgen, in Kroatien, Slavonien und der
Militärgrenze sitzen sie nur spärlich in einzelnen Städten; von den Bergstädten
sind sie bis jetzt noch gänzlich ausgeschlossen gewesen.

Ungarn war bis zum März 5848 das Laud Gösen in dem für Jakob's Enkel
zum zweiten Egypten gewordenen Kaiserstaate, denn in mehrern Provinzen des
eigentlichen Oestreichs, wie in Ober- und Unteröstreich, in Tyrol, Steiermark,
Kärnthen, Krain und Schlesien durften sie — mit Ausnahme weniger Städte
und einiger patentirter Familien — durchaus uicht wohnen; in den übrigen Pro¬
vinzen waren sie nicht nnr mit directen und indirecten, sogenannten Jndensteuern
belastet — sie mußten an den Staat 4 Kr. Münze für das Schlachten eines
Huhns, 8 Kr. für eine Gans, 2 Kr. für jedes Pfund Koscher-Fleisch, 2 Kreuzer
für jedes am Freitag Abends angezündete Sabatlicht entrichten — sondern auch
in bürgerlichem Erwerb und der Heirathsconcession sehr gedrückt. In Ungarn
kam ihnen die Mangelhaftigkeit der Einwanderuugsgesetze zu statte», und der
ungarische Edelmann, der auf seinem Grnnde ein unumschränkter Herr war, nahm
den gut und pünktlich zahlenden jüdischen Pächter gern ans, und schützte ihn sowohl
gegen die Reclamationen der erbländischen Behörden, die solche Auswanderer als
Militärflüchtliuge not Koscher-Fleisch-Consumenten zurückforderten, wie anch gegen
die Anfechtungen 'einheimischer Beamten, die ost im Interesse der polizeilichen
Ordnung, oft im Solde neidischer Krämer den Eindringling beunruhigten. Anders
verhielt es sich mit dem Bauern- und Bürgerstande; ersterer wollte die Juden
an dem Erwerb vou Grundeigenthum, letzterer an der Ausübung handwerklicher
Gewerbe hindern. — Es war bei uns dafür gesorgt, daß jeder Stand seinen
eignen Druck vergessen konnte, indem ihm ein anderer Stand preisgegeben war,
an dem er sein Müthchen kühlen konnte. Die Regierung haßte den Magnaten,
der sich als constitutioneller Vasall geriren wollte; der Magnat verachtete den
Edelmann, der im Kotzenmantel seine goldenen Vorrechte theilte; der Edelmann
haßte den Bürger, der Geschmack für den Reichthum des Bodens, aber keinen
Sinn für die Größe seines Vaterlandes hatte; der Bürger verachtete den Bauer,
der sich ohne jedes Privilegium auf dieser Erde zu mehren willig war; und sie
Alle verachteten den Juden und deu Zigeuner, die Rechtlosen; beide Letztere ver¬
achteten sich gegenseitig und haßten nach oben hinauf bis zum höchsten Stande.

Die neuere Zeit brachte einige Modificationen in dieser Scala hervor, denn
die Reformbestrebungen Joseph's, das Toleranzedict, und die französischen Ideen


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[0180] wurde, die Bedrängten gastfrenndschaftlich aufnahm, so daß die vereinzelt da¬ stehenden Judenverfolgungen in ewigen ungarischen Städten nur eine schwache Nachahmung jener Menschenhetzen bildeten, die im mittelalterlichen Europa so gewöhnlich waren. Gegenwärtig kann man die Zahl der Juden in Ungarn und den Neben¬ ländern ans 400,000 angeben. Die große Mehrzahl wohnt im eigentlichen Ungarn; eine nur geringe Anzahl lebt in Siebenbürgen, in Kroatien, Slavonien und der Militärgrenze sitzen sie nur spärlich in einzelnen Städten; von den Bergstädten sind sie bis jetzt noch gänzlich ausgeschlossen gewesen. Ungarn war bis zum März 5848 das Laud Gösen in dem für Jakob's Enkel zum zweiten Egypten gewordenen Kaiserstaate, denn in mehrern Provinzen des eigentlichen Oestreichs, wie in Ober- und Unteröstreich, in Tyrol, Steiermark, Kärnthen, Krain und Schlesien durften sie — mit Ausnahme weniger Städte und einiger patentirter Familien — durchaus uicht wohnen; in den übrigen Pro¬ vinzen waren sie nicht nnr mit directen und indirecten, sogenannten Jndensteuern belastet — sie mußten an den Staat 4 Kr. Münze für das Schlachten eines Huhns, 8 Kr. für eine Gans, 2 Kr. für jedes Pfund Koscher-Fleisch, 2 Kreuzer für jedes am Freitag Abends angezündete Sabatlicht entrichten — sondern auch in bürgerlichem Erwerb und der Heirathsconcession sehr gedrückt. In Ungarn kam ihnen die Mangelhaftigkeit der Einwanderuugsgesetze zu statte», und der ungarische Edelmann, der auf seinem Grnnde ein unumschränkter Herr war, nahm den gut und pünktlich zahlenden jüdischen Pächter gern ans, und schützte ihn sowohl gegen die Reclamationen der erbländischen Behörden, die solche Auswanderer als Militärflüchtliuge not Koscher-Fleisch-Consumenten zurückforderten, wie anch gegen die Anfechtungen 'einheimischer Beamten, die ost im Interesse der polizeilichen Ordnung, oft im Solde neidischer Krämer den Eindringling beunruhigten. Anders verhielt es sich mit dem Bauern- und Bürgerstande; ersterer wollte die Juden an dem Erwerb vou Grundeigenthum, letzterer an der Ausübung handwerklicher Gewerbe hindern. — Es war bei uns dafür gesorgt, daß jeder Stand seinen eignen Druck vergessen konnte, indem ihm ein anderer Stand preisgegeben war, an dem er sein Müthchen kühlen konnte. Die Regierung haßte den Magnaten, der sich als constitutioneller Vasall geriren wollte; der Magnat verachtete den Edelmann, der im Kotzenmantel seine goldenen Vorrechte theilte; der Edelmann haßte den Bürger, der Geschmack für den Reichthum des Bodens, aber keinen Sinn für die Größe seines Vaterlandes hatte; der Bürger verachtete den Bauer, der sich ohne jedes Privilegium auf dieser Erde zu mehren willig war; und sie Alle verachteten den Juden und deu Zigeuner, die Rechtlosen; beide Letztere ver¬ achteten sich gegenseitig und haßten nach oben hinauf bis zum höchsten Stande. Die neuere Zeit brachte einige Modificationen in dieser Scala hervor, denn die Reformbestrebungen Joseph's, das Toleranzedict, und die französischen Ideen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/180>, abgerufen am 22.07.2024.