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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band.

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fehlt; und die erste Scene nach jener Rede läßt sich einigermaßen dem Bei¬
lager an fürstlichen Transcheen vergleichen. Der Unterschied nur ist, daß diese
Scene bei deu polnischen Zigeunern öffentlich ist. Kommt es vor, daß eine der
beiden Personen sich weigern sollte, sich zum Gegenstand eines solchen Schau¬
spiels zu machen, so wird die Echtheit ihres Zigeuuerblutes bezweifelt und der
Stamm fällt mit Knitteln über sie her und prügelt sie so lange, bis sie sich der
Sitte Folge zu leisten entschließt.

Die Trauungen verpflichten eigentlich nnr die Frau, dem angetraueten Manne
allenthalben zu folgen und sich ohne seinen Willen nie mehr von ihm zu trennen.
Und weigert sich die Zigeunerin dessen irgend einmal, so hat der Zigeuner das
Recht, sie todt zu schlagen. Dieser Fall kommt denn auch bisweilen vor. Furcht
vor dem Landesgesetz nöthigt natürlich den Zigeuner zur Vorsicht, und er wagt
es uicht, sein Mordrecht in einer belebten Gegend auszuüben. Keine Person
des Stammes wird zum Verräther, denn jede achtet die Zigeuuergesetze viel
höher als die fremden Gesetze des Landes. Gleichwohl kommen dergleichen Tha¬
ten bisweilen an den Tag; aber gewöhnlich erst, wenn an eine Bestrafung des
Mordes uicht mehr zu denken ist. So zog man vor etlichen Jahren eine er¬
schlagene Zigeunerin aus dem Wieperzsee zwischen Siemen und Ostrow, und eine
andere ebeu solche Leiche fand man, gewaltsam in eine Fuchshöhle gestampft, in
dem wilden Gebirgswald zwischen Miechon und Olkusz; allein weder in diesem
noch in jenem Gubernium war man im Stande, die Zigeunerstämme aufzufin¬
den, denen die beiden gemordeten Frauen angehörten, und es war eine Frage,
ob dieselben sich noch in Polen befanden. Ueberhaupt möchte es den Behörden
immer sehr schwer werden, den Wegen der Zigeuner zu folgen, da sich die Rich¬
tung ihres Zugs, Ort nud Zeit ihres Aufenthalts stets nach den Umständen des
Augenblicks richten. Sie gleichen fast den Vexirgeistern. Man begegnet einem
Stamme bald hier, bald dort, daun erblickt man ihn mehrere Wochen lang nicht
und glaubt, er habe die Gegend verlassen; plötzlich erscheint er wieder in der
nächsten Nähe, und verschwindet ebenso. Die Wanderung der Zigeuner hält
nie eine bestimmte Richtung fest, sondern bewegt sich wie der Flug der Schwal-
ben im wunderlichsten Zickzack, fast immer auf öden und verborgenen Waldwegen
und bald zur Nacht-, bald zur Tageszeit.

Durch die Trauung ist der Zigeuner uicht an die Zigeunerin gefesselt. Ihm
verbleibt die vollkommenste Freiheit, und er kauu die Angetraute, sobald es ihm
beliebt, wieder verstoßen, wobei aber auch eine gewisse Ceremonie stattfindet.
Dies geschieht oft, doch bedingt sich dadurch keineswegs für ferner eine Ent¬
sagung auf den Genuß des vertraulichen Umgangs. Der Communismus ist
nirgends so vollendet, als bei den Zigeunern. Weder Verwandtschaft noch sonst
etwas macht Beschränkungen. Der Bruder genießt nach Belieben die Reize der
Schwester; gefälltes ihm, so läßt er sich auch mit ihr trauen. Der Verheiratete


fehlt; und die erste Scene nach jener Rede läßt sich einigermaßen dem Bei¬
lager an fürstlichen Transcheen vergleichen. Der Unterschied nur ist, daß diese
Scene bei deu polnischen Zigeunern öffentlich ist. Kommt es vor, daß eine der
beiden Personen sich weigern sollte, sich zum Gegenstand eines solchen Schau¬
spiels zu machen, so wird die Echtheit ihres Zigeuuerblutes bezweifelt und der
Stamm fällt mit Knitteln über sie her und prügelt sie so lange, bis sie sich der
Sitte Folge zu leisten entschließt.

Die Trauungen verpflichten eigentlich nnr die Frau, dem angetraueten Manne
allenthalben zu folgen und sich ohne seinen Willen nie mehr von ihm zu trennen.
Und weigert sich die Zigeunerin dessen irgend einmal, so hat der Zigeuner das
Recht, sie todt zu schlagen. Dieser Fall kommt denn auch bisweilen vor. Furcht
vor dem Landesgesetz nöthigt natürlich den Zigeuner zur Vorsicht, und er wagt
es uicht, sein Mordrecht in einer belebten Gegend auszuüben. Keine Person
des Stammes wird zum Verräther, denn jede achtet die Zigeuuergesetze viel
höher als die fremden Gesetze des Landes. Gleichwohl kommen dergleichen Tha¬
ten bisweilen an den Tag; aber gewöhnlich erst, wenn an eine Bestrafung des
Mordes uicht mehr zu denken ist. So zog man vor etlichen Jahren eine er¬
schlagene Zigeunerin aus dem Wieperzsee zwischen Siemen und Ostrow, und eine
andere ebeu solche Leiche fand man, gewaltsam in eine Fuchshöhle gestampft, in
dem wilden Gebirgswald zwischen Miechon und Olkusz; allein weder in diesem
noch in jenem Gubernium war man im Stande, die Zigeunerstämme aufzufin¬
den, denen die beiden gemordeten Frauen angehörten, und es war eine Frage,
ob dieselben sich noch in Polen befanden. Ueberhaupt möchte es den Behörden
immer sehr schwer werden, den Wegen der Zigeuner zu folgen, da sich die Rich¬
tung ihres Zugs, Ort nud Zeit ihres Aufenthalts stets nach den Umständen des
Augenblicks richten. Sie gleichen fast den Vexirgeistern. Man begegnet einem
Stamme bald hier, bald dort, daun erblickt man ihn mehrere Wochen lang nicht
und glaubt, er habe die Gegend verlassen; plötzlich erscheint er wieder in der
nächsten Nähe, und verschwindet ebenso. Die Wanderung der Zigeuner hält
nie eine bestimmte Richtung fest, sondern bewegt sich wie der Flug der Schwal-
ben im wunderlichsten Zickzack, fast immer auf öden und verborgenen Waldwegen
und bald zur Nacht-, bald zur Tageszeit.

Durch die Trauung ist der Zigeuner uicht an die Zigeunerin gefesselt. Ihm
verbleibt die vollkommenste Freiheit, und er kauu die Angetraute, sobald es ihm
beliebt, wieder verstoßen, wobei aber auch eine gewisse Ceremonie stattfindet.
Dies geschieht oft, doch bedingt sich dadurch keineswegs für ferner eine Ent¬
sagung auf den Genuß des vertraulichen Umgangs. Der Communismus ist
nirgends so vollendet, als bei den Zigeunern. Weder Verwandtschaft noch sonst
etwas macht Beschränkungen. Der Bruder genießt nach Belieben die Reize der
Schwester; gefälltes ihm, so läßt er sich auch mit ihr trauen. Der Verheiratete


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92288/135>, abgerufen am 25.08.2024.