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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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ständische Ausschuß, welchen jeder Landtag bei seinem Auseinandergehen, ans
seiner Mitte gewählt, zurückläßt (dz. 101 und 102).

In Staaten mit längst ausgebildetem Versassungsleben und eiuer unwider¬
stehlichen öffentlichen Meinung, wie England, wird es Niemand für möglich hal¬
ten, daß eine Regierung auf den Gedanken kommen könnte, die Landesvertretung
einmal ganz zu beseitigen oder willkürlich umzugestalten. Aber in Deutschland sind
wir gegen solche Möglichkeiten keineswegs gesichert, und so lauge dem so ist und
wir keinen Gerichtshof haben, der auf die Klage jedes Einzelnen Ver-
fassnngsverlctzungen vor sein Forum zu ziehen befugt oder verpflichtet wäre, so
lange wird die Zurücklassung eines permanenten Ausschusses, als des mit gewissen,
wesentlichen Befugnissen ausgerüsteten Vertreters der Gcsammtstände, gegen Ueber-
griffe, wie sie jetzt vorgekommen, einen wirksamen Schulz bieten. In einem solchen
ständigen Wächter der Verfassung ist diese selbst gleichsam verkörpert und jeden
Augenblick zur Vertheidigung gegen Augriffe gerüstet.

Daß man dieses Institut nicht auch in Sachsen eingeführt, könnte Wunder
nehmen, wüßte mau nicht, daß die ständischen Ausschüsse vou den Zeiten der alten
Stände her in Sachsen im Ruhe zu großer Nachgiebigkeit gegen die Regierung
standen.

Sollten nun aber auch die Landstände oder deren Ausschuß ihre Pflicht ver-
säumen und nicht mit allen zuständigen Mitteln gegen Verfassungsverletzungen ein¬
schreiten, so würde, nach der knrhcssischen Verfassungs-Urkunde, immer noch dem
einzelnen Staatsangehörigen, der sich in seinen Rechten durch die verfassungs¬
widrigen Maßregeln der Verwaltung gekränkt fände, das Recht zustehen, den
sehr^ der Gerichte anzurufen, und dieser Schutz kann ihm, wofern seine Beschwerde
nur begründet ist, nicht wohl fehlen. Dafür sorgen folgende §§. der knrhessischen
Verfassungs-Urkunde.

§. 113. "Niemand kauu an der Betretung und Verfolgung des Rechtsweges
vor den Landesgerichten gehindert werden. Die Beurtheilung, ob eine Sache zum
Gerichtsverfahren sich eigne, gebührt dem Richter nach Maßgabe der allge¬
meinen Rechtsgrundsätze und solcher Gesetze, welche mit Beistimmung
der Landstände werden erlassen werden." Hier ist die Frage, ob und in wie
weit richterliche Behörden an die Befolgung bloßer Verordnungen gebunden
sein sollen, scharf und klar entschieden -- sie sind nicht daran gebunden, dafern
sie nicht selbst dieselben in Uebereinstimmung mit den wirklichen Landesgesetzen
finden.

Weiter K. 123: "Die Gerichte sind innerhalb der Grenzen ihres richterlichen
Berufs in allen Instanzen unabhängig. Dieselben entscheiden ohne irgend eine
fremde Einwirkung nach den bestehenden Rechten und den verfas¬
sungsmäßigen Gesetzen. Sie sollen in ihrem Verfahren, namentlich auch in
der Vollziehung ihrer Verfügungen und Urtheile geschützt, und soll ihnen


ständische Ausschuß, welchen jeder Landtag bei seinem Auseinandergehen, ans
seiner Mitte gewählt, zurückläßt (dz. 101 und 102).

In Staaten mit längst ausgebildetem Versassungsleben und eiuer unwider¬
stehlichen öffentlichen Meinung, wie England, wird es Niemand für möglich hal¬
ten, daß eine Regierung auf den Gedanken kommen könnte, die Landesvertretung
einmal ganz zu beseitigen oder willkürlich umzugestalten. Aber in Deutschland sind
wir gegen solche Möglichkeiten keineswegs gesichert, und so lauge dem so ist und
wir keinen Gerichtshof haben, der auf die Klage jedes Einzelnen Ver-
fassnngsverlctzungen vor sein Forum zu ziehen befugt oder verpflichtet wäre, so
lange wird die Zurücklassung eines permanenten Ausschusses, als des mit gewissen,
wesentlichen Befugnissen ausgerüsteten Vertreters der Gcsammtstände, gegen Ueber-
griffe, wie sie jetzt vorgekommen, einen wirksamen Schulz bieten. In einem solchen
ständigen Wächter der Verfassung ist diese selbst gleichsam verkörpert und jeden
Augenblick zur Vertheidigung gegen Augriffe gerüstet.

Daß man dieses Institut nicht auch in Sachsen eingeführt, könnte Wunder
nehmen, wüßte mau nicht, daß die ständischen Ausschüsse vou den Zeiten der alten
Stände her in Sachsen im Ruhe zu großer Nachgiebigkeit gegen die Regierung
standen.

Sollten nun aber auch die Landstände oder deren Ausschuß ihre Pflicht ver-
säumen und nicht mit allen zuständigen Mitteln gegen Verfassungsverletzungen ein¬
schreiten, so würde, nach der knrhcssischen Verfassungs-Urkunde, immer noch dem
einzelnen Staatsangehörigen, der sich in seinen Rechten durch die verfassungs¬
widrigen Maßregeln der Verwaltung gekränkt fände, das Recht zustehen, den
sehr^ der Gerichte anzurufen, und dieser Schutz kann ihm, wofern seine Beschwerde
nur begründet ist, nicht wohl fehlen. Dafür sorgen folgende §§. der knrhessischen
Verfassungs-Urkunde.

§. 113. „Niemand kauu an der Betretung und Verfolgung des Rechtsweges
vor den Landesgerichten gehindert werden. Die Beurtheilung, ob eine Sache zum
Gerichtsverfahren sich eigne, gebührt dem Richter nach Maßgabe der allge¬
meinen Rechtsgrundsätze und solcher Gesetze, welche mit Beistimmung
der Landstände werden erlassen werden." Hier ist die Frage, ob und in wie
weit richterliche Behörden an die Befolgung bloßer Verordnungen gebunden
sein sollen, scharf und klar entschieden — sie sind nicht daran gebunden, dafern
sie nicht selbst dieselben in Uebereinstimmung mit den wirklichen Landesgesetzen
finden.

Weiter K. 123: „Die Gerichte sind innerhalb der Grenzen ihres richterlichen
Berufs in allen Instanzen unabhängig. Dieselben entscheiden ohne irgend eine
fremde Einwirkung nach den bestehenden Rechten und den verfas¬
sungsmäßigen Gesetzen. Sie sollen in ihrem Verfahren, namentlich auch in
der Vollziehung ihrer Verfügungen und Urtheile geschützt, und soll ihnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/494>, abgerufen am 01.09.2024.